Februar 2012

Der Verfall und mein linkes Auge
Wenn man älter wird, sollte man seinen alternden Körper regelmäßig überprüfen lassen. Deshalb ist es wenig verwunderlich, dass ich an meinem ersten Urlaubstag des Jahres bereits um 08.45 Uhr in der Augenarztpraxis in Waltrop bin, um mir den ordnungsgemäßen Zustand meiner Augen bestätigen zu lassen. Eine der Helferinnen der Ärztin fragt, ob ich meinen Augendruck messen lassen will. Kostet nur 18€. Ich weiß nicht. Sie sagt, dass man ab 40 alle ein bis zwei Jahre so einen Test machen sollte. Ich sage ihr, dass sie nicht vierzig sagen soll, weil mich das deprimiert. Leicht irritiert schaut sie mich kurz an und redet dann einfach weiter. Ich willige ein. Kaum ist der Augendruck gemessen, sitze ich vor Frau Dr. T. Der Augendruck ist zu hoch, sagt sie mir und führt einen weiteren Test durch. Dieser bestätigt den zu hohen Augendruck. Links 23, recht 22. Ich kann mit den Zahlen nichts anfangen. Weil Ärztin und Helferin besorgt gucken und auf mich einreden, willige ich ein, einen kurzen Lasereingriff durchführen zu lassen, um den Augendruck zu senken. Wenige Augenblicke später klebt eine Linse auf meinem Auge und grüne Blitze werden auf mich abgeschossen. Angenehm ist das nicht unbedingt, aber es dient dem Erhalt meines Körpers. Als ich später im Internet recherchiere und lese, dass ein Augendruck bis 21 völlig normal ist, frage ich mich, ob es nicht ein großer Fehler war, an meinem Auge herumdoktern zu lassen. Wieso war ich nur so leicht zu überzeugen von diesem verdammten Eingriff? Warum lasse ich an meinem Auge rumpfuschen, wenn es dazu keinen wirklichen Grund gibt? Und wieso kann man Fehler nicht einfach wieder rückgängig machen?
Einen Tag später bin ich sicher, dass es ein Fehler war, diesen Eingriff durchführen zu lassen, denn ich leide unter Augenschmerzen. Es fühlt sich an, als würde ein Fremdkörper mein Auge bewohnen. Das kann nicht normal sein. Ab zur Augenärztin. Sie kann nichts feststellen, sagt, dass so etwas durchaus mal vorkommen kann und gibt mir ein paar Tropfen fürs Auge mit. Ich möchte sofort einen neuen Körper, der problemlos funktioniert. Verdammte Scheiße!

Am Donnerstag muss ich zur Nachkontrolle. Das Auge macht einen stabilen Eindruck. Augendruck links 18, rechts 20. Der Eingriff war meiner Meinung nach völlig unsinnig, überflüssig und nicht gut für mich und mein Auge. Die Ärztin attestiert mir ein völlig trockenes Augen und gibt mir Tropfen mit. Nachkontrolle in drei Wochen. War es das jetzt?

Am Samstag bekomme ich ganz spontan Sehstörungen. Es scheint, als hätte meine Augenstärke ganz plötzlich abgenommen und ein Grauschleier sich auf mein Auge gelegt. Durchaus panisch fahre ich zur Augenklinik. Meine Erzählungen vom Lasereingriff werden mit einem Kopfschütteln quittiert. Dazu wird ein Problem auf der Hornhaut festgestellt. Ein Zusammenhang zwischen dem Problem und dem Lasereingriff kann nicht festgestellt, aber ebenso wenig ausgeschlossen werden. Ich bekomme zwei unterschiedliche Tropfen fürs Auge. Fünf Tage soll ich die Tropfen konsequent einnehmen. Ich bin entsetzt und der Tag ist versaut. Warum habe ich nur mein Auge lasern lassen? Wie konnte ich nur so naiv und bescheuert sein, mich auf so eine spontane Aktion einzulassen? Wie konnte ich nur so viel Vertrauen in eine Ärztin haben, die mir obendrein nicht einmal sonderlich sympathisch ist? Die Sicht bleibt den ganzen Abend über eingeschränkt.

Der Sonntag bringt mir noch mehr Spaß. Mit dem linken Auge kann ich auch weiterhin nicht richtig sehen, dazu kommt, dass ich Schmerzen habe und das Auge ständig tränt. Das ist richtig Scheiße. Weil es auch am Montag nicht besser ist, fahre ich erneut zu der Augenärztin, bekomme eine weitere Salbe und einen Krankenschein bis einschließlich Freitag. Am Mittwoch wird dieser Krankenschein bis zum nächsten Mittwoch verlängert. Mein Hornhautriss ist verheilt, die Sicht weiter getrübt. Meine Frage, ob ich irgendwann wieder mit dem Auge sehen kann, wird von Frau Dr. T. mit „Ich hoffe es“ beantwortet. Langsam wird’s unheimlich. Beängstigend ist es schon. Und was soll man von einer Augenärztin halten, die so eine Antwort gibt, nachdem ein angeblich so harmloser und obendrein überflüssiger Eingriff zu solchen Problemen geführt hat. Solche Pfuscher darf man eigentlich nicht auf die Menschheit loslassen.

Der nächste Samstag. Seit einer Woche trage ich Brille statt Kontaktlinsen, sehe noch immer nicht besser und vor allem nicht besser aus. Ich finde es sehr unangenehm, außerhalb der Wohnung eine Brille tragen zu müssen und gehe nur noch aus dem Haus, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Zum Training gehe ich natürlich auch nicht. Das geht einfach nicht. Ich fühle mich mit der Brille noch unattraktiver als sonst. Nur gut, dass ich schon eine Freundin habe, denn mit der Brille würde ich nie mehr eine Frau finden. Wenn sich herausstellt, dass ich nie wieder Kontaktlinsen tragen kann, werde ich die Wohnung auch in Zukunft nicht mehr oft verlassen können. Kaum vierzig und schon zerfalle ich total. Nur dieses Mal ist es meine eigene Naivität, die meinen Verfall beschleunigt hat. Bald wird mein Körper zu nichts mehr zu gebrauchen sein. Dann passt er wenigstens zu mir. Ich bin auch zu nichts zu gebrauchen.


09. Februar 2012
Trotz eingeschränkter Sicht und einem Krankenschein bis einschließlich nächsten Mittwoch, fahre ich zum Büro, um meine Verdienstabrechnung abzuholen. Die brauche ich nämlich, um vom Jobcenter berechnen zu lassen, wie viel Geld ich zu meinem üppigen Gehalt, im Januar waren es 862,86€, zehn Euro weniger als im Dezember, dazu bekomme. Wegen der Renovierungsarbeiten sitzt die Bürgerarbeiterin in einem anderen Büro. Sie hat keinen Internetzugang und ist alles andere als motiviert, als ich sie dort aufsuche. Sie teilt mir die neuesten Entwicklungen mit und erzählt von der Stadtplanfrau. Diese arbeitet nun ehrenamtlich in Bergkamen. Die Kollegin aus Kamen, deren Vertrag auch Ende des Monats ausläuft, will ebenfalls ehrenamtlich in Kamen weiterarbeiten. Passend dazu hat die Chefin der Bürgerarbeiterin vorgeschlagen, dass sie sich ebenfalls einen ehrenamtlichen Mitarbeiter sucht. Die Bürgerarbeiterin hat abgelehnt. Deutschlands Zukunft sind Bürgerarbeiter und Ehrenamtliche. Darauf muss ich bei Gelegenheit einen trinken. Vorher bewerbe ich mich aber noch als Bundespräsident.


Der Verfall und mein linkes Auge 2
Montag, 13. Februar. Kontrollbesuch bei der schrecklichen Augenärztin. Sehen kann ich nur minimal besser. Mein Augendruck links liegt bei 18, rechts bei 24. Die Ärztin erzählt vom grünen Star, den ich habe, oder wegen dem erhöhten Augendruck bekommen werde, und dass es wohl erblich bedingt ist, weil meine Mutter auch grünen Star hat. Ich will nix vom grünen Star hören. Ich habe irgendwo gelesen, dass hoher Augendruck und grüner Star nicht unbedingt zusammengehören. Mehr Sorge bereitet mir im Moment eh mein linkes Auge. Die Ärztin sagt, dass der Augendruck im linken Auge seit dem lasern toll ist, was ich nicht wirklich so sehe. Der Augendruck mag leicht reduziert sein, aber ansonsten ist gar nichts auch nur annähernd toll. Das rechte Auge will die übereifrige Augenärztin lasern, wenn das linke Auge wieder in Ordnung ist. Weder will ich mein rechtes Auge lasern lassen, noch glaube ich daran, dass mein linkes Auge irgendwann wieder normal funktioniert. Das Thema lasern ohne Sinn und Verstand hat sich für mich erledigt. Ich lasse mich kein zweites Mal auf so einen Schwachsinn ein. Nun erzählt die vermutlich inkompetente Augenarzt von einem Nährstoffmangel an meinem linken Auge, weshalb der Heilungsprozess so schleppend verläuft. Statt leckerer Nährstoffe für mein linkes Auge, gibt sie mir Tropfen für mein rechtes Auge. Timo-Stulln. Die Tropfen sollen den Druck senken. Ich komme mir vor wie ein siebzigjähriger Tattergreis, mit dem es langsam zu Ende geht, fühle mich schlecht und spüre deutlich, wie ich depressiver und depressiver werde. Der Verfall macht mich echt fertig. Was kommt als nächstes. Demenz? Alzheimer? Oder faulen mir irgendwelche Glieder ab? Die Ärztin schreibt mich eine weitere Woche krank. Warum schreibt sie mich nicht gleich bis zu meinem Ende krank? Bringt doch alles nichts mehr. Sie gibt mir einen Brief für meinen Hausarzt mit. Darin steht, dass bei mir erhöhte Augeninnendruckwerte festgestellt wurden und der Verdacht auf ein Glaukom besteht und fragt, ob es gesundheitliche Bedenken gegen Betablocker gibt, weil Betablocker die geringsten Nebenwirkungen auf die Sehschärfe haben und sie möchte, das ich mir Betablocker ins Auge tropfe. Meiner Meinung nach gibt es sehr wohl gesundheitliche Bedenken gegen diese Betablocker. Schon allein wegen der Nebenwirkungen. Sehstörungen und Trockenheitsgefühl. Habe ich beides schon und nehme gegen diese Trockenheit bereits Hyabak. Obwohl noch nicht feststeht, dass ich ein Glaukom habe, soll ich ein Präparat benutzen, was alles, was an meinem Auge eh schon nicht gut ist, verschlimmern kann. Ich frage mich echt, ob Frau Dr. T. völlig den Verstand verloren hat. Hyabak und Timo-Stulln ins rechte Auge, dazu stündlich im Wechsel Hydrocortison, Parin und Floxal ins linke Auge. Als gesunder Mensch ging ich zum Arzt, als Wrack wurde ich entlassen. Ich komme mir vor wie in einem schlechten Film.

Mein Hausarzt hat keine Bedenken gegen die Betablocker für mein Auge. Aber er möchte, dass ich am Donnerstag zum EKG komme. Das finde ich bedenklich, weil er mir so etwas noch nie vorgeschlagen hat. Und plötzlich habe ich sogar Angst vorm EKG. Das kann doch alles nicht wahr sein. Wo soll das enden und wie schlimm wird es, wenn ich noch älter werde? Weil mich das alles völlig verwirrt, vereinbare ich einen Termin beim Heilpraktiker. Außerdem beschließe ich, mein Blut untersuchen zu lassen. Und weil ich gerade dabei bin, werde ich beim Hautarzt einen Termin zur Krebsfrüherkennung vereinbaren. Ich werd noch verrückt.

Bereits am nächsten Morgen gehe ich zur Blutentnahme. Danach zum Sport. Zum ersten Mal mit Brille. Irgendwie gruselig. Doch wer weiß, wie lange ich das noch machen darf und kann.

Donnerstag, 16. Februar. Ich sitze in Dortmund in der Gemeinschaftspraxis von zwei Augenärztinnen. Mein Vertrauen in Frau Dr. T. zwang mich, die Augenarztpraxis zu wechseln. Die Augenärztin, die nun für meine Augen zuständig ist, ist etwas verwundert über das Vorgehen von Frau Dr. T. Sie untersucht mein Auge, gibt mir Termine für weitere Untersuchungen und stellt eine Hornhauttrübung fest. Klingt wenig ermunternd. Da habe ich vermutlich was fürs Leben. Woher die Trübung kommt, kann nicht festgestellt werden. Ist aber irgendwie auch egal. In diese Praxis lege ich die Zukunft meiner Augen, Frau Dr. T. aus Waltrop werde ich nie wieder aufsuchen, denn sie hat offensichtlich keine wirkliche Ahnung von dem, was sie beruflich macht. Auch wenn es für mein Auge vielleicht schon zu spät ist, mein zweites Auge ist hier sicher besser aufgehoben. Denn wenn das zweite Auge auch noch kaputt geht, wird es finster. Weil der Tag so schön begann, gehe ich anschließend zu meinem Hausarzt, um ein EKG machen zu lassen. Vielleicht geht es ja bald zu Ende mit mir, dann brauche ich meine Augen sowieso nicht mehr.


Arztbesuch
Am Freitag habe ich einen Termin beim Hausarzt, um über EKG und Blutbild zu sprechen. Das Wartezimmer ist voll. Voll von Verseuchten. Es wird gehustet, der Rotz hochgezogen und inmitten dieser durch und durch unangenehmen Situation, lärmen zwei Kinder, was das Zeug hält. Zwischendurch bekommt eines der beiden Kinder Hustenanfälle. Kann das Kind das nicht zu Hause machen? Die Eltern der beiden sind echte Gazellen. Die Frau hat Oberschenkel, die so viel Platz in Anspruch nehmen, dass ich mich frage, wozu das gut ist. Der Mann ist fast doppelt so mächtig wie seine Frau. Wenn er hustet und seine Viren und/oder Bakterien durch das Wartezimmer schleudert, bekomme ich mächtig Angst. Ich sitze in einer Ecke, atme so wenig wie möglich und habe meine Hände in den Hosentaschen vergraben, um mit möglichst wenig verseuchtem Material in Kontakt zu kommen. Ich fühle mich krank.
Als ich nach endlosen Minuten endlich beim Arzt sitze, bin ich nicht mehr ganz so fertig. Blutwerte und EKG sind okay. Auf mein Blut und mein Herz ist zum Glück noch Verlass. Wenn ich noch richtig sehen könnte, würde ich mich vermutlich wieder wie 38 fühlen. Weil ich das aber nicht kann, fühle ich mich einfach nur leer und alt. Ich will sofort wieder sehen können. So wie vor drei Wochen, als meine Welt noch irgendwie in Ordnung war, bevor ich eine folgenschwere Entscheidung traf und einer gemeingefährlichen Augenärztin vertraute.


Unzufriedener Glückspilz oder glücklicher Unzufriedener?
Pech im Spiel, Glück in der Liebe. So lautet irgendein Sprichwort, dass man immer dann benutzt, wenn es bei einem gerade so läuft, dass das Sprichwort passt. Ich benutze es eigentlich gar nicht. Und das, obwohl ich sicher bin, dass ich meist Pech im Spiel und nur auf Zeit Glück in der Liebe habe. Doch was ich glaube ist nicht wichtig, denn ich habe früher ja auch geglaubt, dass ich irgendwann ein Haus und einen Porsche besitzen werde. Das war natürlich vollkommener Quatsch. Ein Irrglaube sozusagen. Also bleibe ich der Meinung, dass Glück vergänglich ist, so wie alles vergänglich ist. Aber ich schweife ab.
Nachdem mich der Loerz, wie fast jeden Sonntag zum Pokern animieren will, willige ich ein letztes Mal ein. Ich verliere nicht gern, habe schon seit langer Zeit nicht mehr beim Pokern gewonnen und gehe somit heute zum Abschiedspokern. Oder klingt Abschied vom Pokern besser? Egal. Zu zehnt sitzen wir am Pokertisch und ich bin direkt der zweite, der den Tisch als Verlierer verlassen muss. Ich sag doch, dass pokern nichts mehr für mich ist. Ich bin schon dabei mich zu verabschieden, als der Loerz darauf besteht, dass ich wieder einsteige. Einsteigen ist blöd, wenn man eigentlich aussteigen will. Dennoch lasse ich mich auch dieses Mal vom Loerz überzeugen. Als er mich das letze Mal überzeugt hat, bin ich am Ende immerhin Zweiter geworden. Das erscheint mir dieses Mal alles andere als möglich. Ich sehe mich am Ende auf Platz 6. Um dies zu erreichen setze ich einfach nicht mehr, sondern werfe meine Karten immer direkt weg. Ist zwar etwas langweilig, aber nicht zu vermeiden. Die ersten fünf Mitspieler verlieren alle ihre Chips und verlassen den Tisch. Ich habe nun die wenigsten Spielchips der verbleibenden Spieler und rechne mit meinem baldigen Ende und träume so vor mich hin, als plötzlich der Loerz aus dem Spiel ist. Ich träume noch immer, als die beiden Spieler neben mir den Tisch verlassen müssen. Ohne auch nur irgendwas dafür getan zu haben bin ich schon Zweiter. Sehr merkwürdig. Meine Gegenüber hat Spielchips im Wert von über 100.000 vor sich liegen. Vor mir liegen etwa 6.000. Er fragt, ob ich nicht einfach aufgeben will, weil ich eh nicht gewinnen kann und er nach Hause möchte. Es ist spät und er muss morgen früh arbeiten. Ich muss weder das eine noch das andere, also sage ich ihm, dass wir das hier zu Ende spielen und es auch ganz sicher nicht lange dauern wird. Und es dauert tatsächlich nicht lange bis er alle seine Chips verloren hat. Allerdings liegt das nicht an mir, sondern nur am Glück. Somit bin ich am Ende nicht nur der Sieger, sondern habe einmal mehr nachgewiesen, dass Pokern ein reines Glücksspiel ist. Und weil mich Agnes während des Pokerspiels nicht verlassen hat, hatte ich heute beides. Glück im Spiel und Glück in der Liebe. Beides durchaus vergänglich. Dummerweise macht beides auch süchtig. Und so werde ich beides behalten wollen und unzufrieden sein, wenn ich es nicht mehr habe. Meine Unzufriedenheit ist übrigens unvergänglich. Komisch, dabei dachte ich immer, dass ich darauf am ehesten verzichten könnte. Da muss ich mich wohl geirrt haben. Und deshalb endet der Abend so, wie er angefangen hat, mit einem Spruch. Der unzufriedene Mensch findet keinen bequemen Stuhl.


Der Verfall und mein linkes Auge 3
Jeden Morgen das gleiche Ritual. Ich öffne zunächst nur mein linkes Auge, um zu testen, ob ich besser sehen kann. Und jeden Morgen scheint es besser zu sein. Bis zu dem Moment, in dem ich mein rechtes Auge öffne. Dann sehe ich, dass ich mit links nicht besser sehe. Und mit jedem Tag schwindet die Hoffnung, dass es irgendwann wieder so sein wird, wie es früher war und wie es sein sollte. Das macht mich wütend und lässt mich hilflos zurück. Ich habe es nicht in der Hand. Niemand hat es in der Hand. Scheiße. Obwohl es völlig sinnlos ist, halte ich an dem Ritual fest. So glaube ich jeden Morgen für ein paar Sekunden fest daran, dass es besser geworden ist, dann sehe ich, dass ich nicht besser sehe und sehe dennoch nicht ein, dass ich mit dem morgendlichen Hoffnungsritual aufhören sollte. Mal sehen, wie lange es dauert, bis ich mich endlich mit meiner Hornhauttrübung als irreparables Ärgerns abfinde.


21. Februar 2012
Da ich nicht mehr krankgeschrieben bin, werde ich an den letzten sieben Tagen vor meiner Rückkehr in die gewohnte Arbeitslosigkeit ordnungsgemäß meine Arbeit verrichten. Im Nebenraum toben die Alleinerziehenden. Ich kann nicht sagen, dass ich das sonderlich vermisst habe. Mein neuer Arbeitsplatz am Ende des Büros ist für meine neue Rolle als stiller Beobachter genau richtig. Die Bürgerarbeiterin erzählt von ihren Erlebnissen der letzten Wochen. Die neue Rollenverteilung ist ungewohnt. Sie schreibt eine Bewerbung nach der anderen und ich sitze einfach nur da und beobachte die Situation. Mal sehen, wann es anfängt mich zu langweilen. Nach etwa zwei Stunden ist es vorbei mit der Ruhe. Ein Kunde nach dem anderen spaziert zur Tür herein. Und so muss selbst ich, der nur als Beobachter eingeplant war, Bewerbungen schreiben. Immer, wenn ich damit fertig bin, muss ich die Bewerbungsunterlagen auf einen USB-Stick kopieren, zum anderer Rechner gehen und von dort ausdrucken, weil es von dem PC hier hinten nicht möglich ist. So entsteht ein herrlich sinnloses Chaos, was zu vermeiden wäre, wenn hier alles richtig funktionieren würde. Gut, dass ich im nächsten Monat nicht mehr Teil dieses Chaos sein werde. Ich kann mit Chaos nämlich so gar nichts anfangen. Nachdem die Bürgerarbeiterin sich um 14.00 Uhr verabschiedet hat, hänge ich ein paar Bilder auf und räume etwas auf.


22. Februar 2012
Sorgen bereitet mir heute die Bürgerarbeiterin, denn sie hat eine Rotznase und muss ständig niesen. Entweder liegt das an ihrer Pollenallergie oder sie hat eine üble Erkältung. Das macht mir Angst, weil ich nämlich keine Zeit für eine Erkältung habe. Als zukünftiger Vorzeigearbeitsloser wäre es mehr als fatal, wenn ich mich bei ihr anstecke. Ich habe Angst.


23. Februar 2012
Als ich im Büro ankomme, blinkt der Anrufbeantworter. Drei neue Nachrichten. Ein Mann erzählt von einem USB-Stick. Er scheint nicht mitbekommen zu haben, dass er mit dem AB spricht. Als er keine Antwort bekommt auf seine Fragen, glaubt er, dass die Verbindung unterbrochen wurde. Er ruft erneut an und ist weiter verwirrt. Er ruft mehrfach „Hallo“ und beendet seine Show mit den Worten „Schon wieder unterbrochen“.

Da die Bürgerarbeiterin sich krank abmeldet, bin ich heute und morgen wieder der Chef dieser Einrichtung. Um 11.23 Uhr kommt Eulalia zu Besuch und möchte sich einfach nur unterhalten. Je länger die Unterhaltung andauert, desto müder werde ich von all den Belanglosigkeiten, die sie zu erzählen hat. Erst als der Kuchenmann um 12.32 Uhr das Büro betritt, verabschiedet sie sich von mir. Ich habe Hunger und Durst und bin völlig erledigt von ihrem Besuch. Der Kuchenmann möchte eine Bewerbung und hat viel zu erzählen. Er bleibt und redet auf mich ein, bis ihn um 13.28 Uhr der Ehrengast ablöst. Der hat mir gerade noch gefehlt. Er und Eulalia an einem Tag sind echt zu viel für mich. Was genau der Ehrengast will, weiß ich nicht. Zwei Formulare für Prozesskostenhilfe, dazu viele Worte über E-Plus. Er redet, ich verstehe den Sinn all der Worte nicht. E-Plus, Anwalt, IPhone, Musik, Lautsprecher kaputt, Hotline, Frau, nicht angerufen, angerufen, kostenlos, Rechnung, usw. Dazu etwas von einem Betreuer, den er früher wohl hatte. Ich würde wirklich gerne zuhören, aber ich kann einfach nicht, denn ich bin halb verhungert und völlig ausgetrocknet. Gegen 14.30 Uhr habe ich einen schönen Brief an E-Plus geschrieben und will nur noch, dass der Ehrengast geht. Er ist auch schon fast aus der Tür als er fragt, ob ich nicht noch einen Brief schreiben kann. Nein! Nein! Nein! Ich muss jetzt essen. Endlich verlässt der Ehrengast das Büro. Doch zu früh gefreut. Schon stehen zwei weitere Gäste im Büro. Heute nicht. Ich muss essen und trinken und atmen. Also erlaube ich den beiden, morgen wieder zu kommen. Es ist bereits 14.37 Uhr als ich endlich essen und trinken darf, doch der Tag ist noch nicht zu Ende. Kaum habe ich aufgegessen, bittet ein türkischer Besucher mich, ihm seine Unterlagen per Mail zu schicken. Übersetzt heißt seine Mailadresse „Gott möge Dich strafen“. Dabei habe ich ihm gar nichts getan. Ich will nur noch hier weg.


24. Februar 2012
Seit Mittwoch verzichte ich auf meinen morgendlichen Sehtest. Der Augenzustand ist unverändert, Hoffnung auf Besserung kaum noch vorhanden. Seit gestern habe ich die empfohlenen Mittel vom Heilpraktiker da. Cineraria maritima N Synergon Nr. 2. Täglich darf ich 6 x 15 Tropfen einnehmen. Schmeckt eher scheußlich. Dazu Cineraria Maritima D3 Augentropfen und Mucokehl D5 Augentropfen. MK Auge ist bestellt und müsste in den nächsten Tagen eintreffen. 75€ habe ich dann für diese Mittel bezahlt. Vermutlich rausgeschmissenes Geld. Aber was soll ich tun? Ein letzter verzweifelter Versuch, mein Auge zu reparieren, um doch irgendwann wieder damit sehen zu können. Allerdings habe ich die Sachen schon letzte Woche bestellt. Da war ich noch voller naiver Hoffnung. Von dieser Hoffnung ist heute nicht mehr viel vorhanden.

Der 10.00 Uhr Termin stinkt nach altem Fett und Kaninchenstall. Ich kann mich für diese Geruchskombination nicht begeistern. Dennoch bekommt der Mann schöne Bewerbungsunterlagen von mir. Anschließend wird ordentlich gelüftet. Der 12.00 Uhr Termin bringt mir zum Abschied eine 200 g Tafel Milka Schokolade Choco & Rice. Hatte ich schon erwähnt, dass ich derartige Geschenke liebe?


27. Februar 2012
Nebenan toben die Alleinerziehenden und deren Dozent scheint das prima zu finden. Wenn nicht gelärmt wird, wird Zeitung gelesen. Mit Zeitung lesen raus aus der Arbeitslosenstatistik. Das nenne ich effektive Maßnahmen mit Vorbildcharakter. Davon will ich mehr. Nachdem sie ihre Lesestunde beendet haben, schmieden die Alleinerziehenden neue Pläne. Sie überlegen, ob sie Popcorn zubereiten, stellen aber schnell fest, dass sie keine Mikrowelle haben und verwerfen den Plan wieder. Dafür steigt der Lärmpegel weiter an. Die Weiber lachen so laut und so viel, als wären sie Zuschauer einer Comedyshow. Dummerweise sind sie Teil dieser Show. Sie lachen, trampeln vor Begeisterung mit den Füßen und ab und zu wirft der Dozent einen trockenen Spruch unters Volk. Schon bricht das Volk wieder in schallendes Gelächter aus. Hier werden Leute vom Jobcenter dafür bezahlt, Teil einer Comedyshow zu sein. So etwas gibt es vermutlich nur in Deutschland. Aber es passt irgendwie, weil Deutschland ja auch immer mehr zu einer Comedyshow verkommt. Der Dozent fühlt sich bestimmt ganz toll, weil er die ganzen Weiber zum Lachen bringt. Allerdings fände ich es etwas bedenklich, wenn er sich bei der Qualität der Weiber, die er da zum Lachen bringt, wirklich toll fühlen würde. Dazu sind die Damen zu schlicht und unattraktiv. Schlichtheit macht unattraktiv. Ist leider so. Andererseits ist der Dozent über 50. Da sieht die Welt vermutlich anders aus und Schlichtheit wird da zu einer interessanten Sache. Was weiß ich..
Um 10.38 Uhr ruft die Bürgerarbeiterin an. Sie hat einen üblen Virus und fällt den Rest der Woche aus. Herrlich.


Der Verfall und mein linkes Auge 4
Am Montagnachmittag sitze ich bei der Augenärztin. Augendruck links 16, rechts 22. Der Wert des rechten Auges ist etwas bedenklich. Es ist scheinbar tatsächlich so, dass das lasern dem linken Auge gut getan hat. Zumindest was den Druck angeht. Sehen ist ja bekanntlich seit geraumer Zeit eher unprickelnd. Als ich der Ärztin sage, dass mein linkes Auge noch immer nicht sehen mag, ist sie etwas überrascht. Damit hat sie wohl nicht gerechnet. Es folgt ein Sehtest. Ich erkenne nicht viel. Dennoch ist die Augenärztin irgendwie zuversichtlich. Die Sehkraft liegt bei etwas über 60%. Beim letzten Mal lag sie bei 50%. Auch die Trübung soll erkennbar zurückgegangen sein. Die Ärztin geht fest davon aus, dass ich irgendwann wieder richtig sehen kann. Ich bin erfreut, verfalle aber nicht in Euphorie. Die Ärztin sagt, dass es lange dauert, bis es soweit ist. Wochen oder Monate werden vergehen, bis sich mein Auge erholt hat. Damit kann ich leben, wenn es denn stimmt. Ende März werden weitere Untersuchungen durchgeführt. Bis dahin bekommt mein Auge täglich Optive Plus. Und natürlich die Augentropfen, die mir der Heilpraktiker empfohlen hat. Spätestens Ende März weiß ich mehr. Wir werden sehen. Oder eben nicht.


28. Februar 2012
Die Alleinerziehenden beginnen den Tag. Gemeinsam werden die Tageszeitungen gelesen. Unterricht für Degenerierte. Das tut weh, aber so ist das Leben.

Am Nachmittag kommt die Stadtplanfrau, um etwas abzuholen. Ihre ehrenamtliche Tätigkeit wird mit 175€ belohnt. 175€ für 20 Stunden im Monat sind gar nicht schlecht. Eine ehrenamtliche Tätigkeit ist wohl doch lohnenswert. Wie schön, dass ich das nur durch Zufall erfahre. Und weil die Chefin im Urlaub ist, kann ich sie auch nicht fragen, ob ich für 175€ nicht auch ehrenamtlich hier weiter arbeiten darf. Mein Gott ist das ein Dilemma. Ich will sofort ehrenamtlicher Helfer werden. Sofort. Oder spätestens übermorgen.

Plötzlich und unerwartet steht der Ehrengast in meinem Büro. Er möchte, dass ich ihm drei Briefe schreibe. Einmal für E-Plus, einmal an seinen früheren Betreuer und einen letzten Brief an eine Postservice. Nachvollziehen kann ich kaum etwas von dem, was er da geschrieben haben will. Es ist übrigens der sechzehnte Brief an E-Plus, den er heute von mir bekommt. Nach etwa einer Stunde ist er zufrieden und ich bin erledigt.

Zu Hause erwartet mich ein Brief vom Jobcenter. Mein Antrag auf Leistungen nach dem SGB II wurde bewilligt. Ab dem 01. April bekomme ich 72,60€, weil ich ja monatlich 900€ verdiene. Wie doof muss man eigentlich sein, um so einen Bescheid zu verschicken? Mein Arbeitsvertrag endet am 29.02.2012. Woher also sollen diese 900€ kommen, die ich angeblich verdiene? Und was haben die mit der 900? Ich habe während meiner sogenannten Weiterbildung nie 900€ verdient. Das ist echt unglaublich.


29. Februar 2012
Abschiedsgespräch mit der Kollegin aus Kamen. Auch sie wird 20 Stunden im Monat ehrenamtlich weiter arbeiten. Nur mich will man hier scheinbar nicht. Die Kollegin meint, dass es an meiner Einstellung liegt und sagt, dass man bei den Teamsitzungen gesehen hat, dass mich das alles anwidert. Interessant, denn ich fand mein Verhalten immer neutral, aber neutral ist wohl Scheiße. Sie findet alles total Scheiße, hat aber immer so geredet als wäre sie voll motiviert. Und obwohl ich eigentlich wusste, dass man nur blöd labern muss, um weiter zu kommen, habe ich darauf verzichtet. Deshalb werde ich nicht monatlich mit 175€ belohnt. Ehrenämter sollten sowieso nur Ehrenmenschen ausführen. Wie Herr Wulff aus Niedersachsen. So bin ich einfach nicht.

Der Kuchenmann kommt spontan vorbei, um sich von mir zu verabschieden. Am Ende fragt er, wie er mich erreichen kann. Ich sage ihm, dass er mich über Facebook erreichen kann und schenke ihm einen Kugelschreiber. Findet er gut, fragt aber auch nach meiner Telefonnummer. Meine Telefonnummern gebe ich höchstens willigen Frauen, die kann ich ihm also nicht verraten. Ich bin einfach kein geselliger Mensch, glaube ich.
Schnell ein Blick aufs Konto. Mein letztes Gehalt wurde überwiesen. 836,32€. Dazu 72,60€ vom Jobcenter. Ich werde dieses Geld und die ständigen Überraschungen sehr vermissen.

Meine letzte Besucherin hat ihren Kinnbart zwischenzeitlich abrasiert und dafür einen herrlichen Eigenduft mitgebracht. Ich schreibe ihr drei Bewerbungen. Zum Abschied wünscht sie mir für meine Zukunft alles Gute. Der perfekte Abschied, wie ich finde. Doch es kommt noch besser. Plötzlich und unerwartet steht der Geschäftsführer mit Blumen vor mir, dankt mir für meine Mitarbeit, überreicht mir die Blumen und hofft, dass ich das Unternehmen positiv in Erinnerung behalte. „Jetzt mit den Blumen auf jeden Fall“, sage ich. Er schaut fröhlich und verabschiedet sich mit den Worten, „Vielleicht sieht man sich ja mal wieder hier“, von mir. Es ist 13.04 Uhr. Diese Karriere ist nun definitiv beendet. Die nächste Stufe auf der Karriereleiter wartet auf mich. Ich bin bereit.

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