Stuhlproben und mehr
Weil die Schulmedizin mich deprimiert, sitze ich heute beim Heilpraktiker und klage ihm mein Leid. Er schlägt eine Überprüfung der Darmbakterien vor. Dazu muss ich, wie könnte es anders sein, eine Stuhlprobe sammeln und an ein Labor schicken. Weil ich mich mittlerweile zu einer Art Stuhlprobenkönig entwickelt habe, nehme ich es leicht. Allerdings nur so lange bis der Heilpraktiker sagt, dass ich das Röhrchen bis zur Hälfte füllen soll. Das finde ich irgendwie ekelhaft. Zum Auffangen der Exkremente bekomme ich eine Auffangvorrichtung mit. Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt. Dennoch werde ich meine eigene Vorrichtung nutzen, weil ich gewisse Veränderungen einfach furchtbar finde. Schlimm genug, dass ich mittlerweile zu einem echten Scheißesammler geworden bin. Da bekommt die Aussage, „Er sammelt auch jeden Scheiß“ eine völlig neue Bedeutung.
Die Probenahme verläuft fast routiniert, wenn man bedenkt, wie übel mir beim ersten Mal noch war. Selbst die große Menge, die es heute zu sammeln gibt, bringt mich nicht ernstlich in Gefahr. Allerdings habe ich zu meinem Schutz die Nasenlöcher verstopft. Riechen mag ich das Zeug wirklich nicht. Nachdem ich meine neue Sammelleidenschaft gestillt habe, verschließe ich das Röhrchen und anschließend den Umschlag. Danach bringe ich meine Kostbarkeiten zur Post. Jetzt heißt es warten, bis sich das Labor mit den Ergebnissen meldet.
Kurze Zeit später sitze ich bei meinem Arzt und trage ihm vor, dass ich noch immer Sodbrennen habe. Unverzüglich bekomme ich eine Überweisung zur Magenspiegelung.
TV am Abend
Nach einem langen Tag sitze ich vor meinem Fernseher, esse eine Schnitte Brot mit Hähnchenbrust und will nur noch etwas entspannen, bevor ich ins Bett klettere. Ich schalte mich durch die Programme. Auf RTL2 werden Leute gezeigt, die gerne auf Swingerpartys gehen. Ein Mann geht mit seiner Fickbekanntschaft zu so einer Party. Die Frau macht so etwas zum ersten Mal. Der Mann redet zu viel und ich bin sprachlos. Das ist so platt und anstrengend, dass ich daran einfach nichts erotisch finden kann. Einen Moment sitze ich wie paralysiert vor dem Fernseher und starre auf den Bildschirm. Nach einer Weile komme ich zu mir, schalte weiter und lande bei Tele 5. Dort läuft Stuckrad-Barre. Zu Gast irgendeine blonde Frau. Es scheint so, als würden die beiden Telefonstreiche spielen. Allerdings ohne witzig zu sein. Es folgt eine Art „Zwei bei Kallwass“ fürs Abendprogramm. Die blonde Frau spielt Kallwas, Stuckrad-Barre sich selbst und irgendwelche Männer irgendwen. Das ist ähnlich witzig, als hätte man eine Klobürste im Halse stecken. Und ich muss gestehen, dass mir die Leute alle irgendwie unsympathisch sind. Einige Minuten starre ich vollkommen verwirrt auf den Fernseher und frage mich, ob das deren ernst ist. Muss es wohl. Das ist so, als wenn jemand, der weder witzig noch irgendwie anders unterhaltsam ist, eine eigene Fernsehsendung bekommt und dafür bezahlt wird. Das ist schon eine Art Massenbelästigung. Anderseits denke ich, dass ich auch nicht schreiben kann und es trotzdem mache. Doch erstens werde ich nicht dafür bezahlt und zweitens liest es eh kaum jemand. Ich belästige also nur einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung und verlange auch keinen Eintritt dafür. So ist das weniger schlimm, wie ich finde. Was also soll diese Sendung? Mir kommt der Gedanke, dass ich vielleicht zu dumm bin, zu verstehen, was mir da angeboten wird. Und während ich mich mit meiner Beschränktheit anfreunde, fällt mir auf, dass das Publikum scheinbar auch nicht wirklich begeistert ist. Zumindest wird kaum gelacht. Entweder passt das alles nicht zusammen oder es ist etwas völlig anderes, was ich einfach nicht begreifen kann. Ich mache das besser aus. Ist nix für mich.
Im Internet lese ich, dass in der Sendung Gäste auf Herz und Nieren geprüft werden und sich nicht mit Phrasen zufriedengeben wird. Ich erkenne, dass ich die ganze Sendung nicht verstanden habe und einfach zu dämlich bin. In Zukunft werde ich es vermeiden, erneut einzuschalten. Andererseits kann ich da vielleicht doch noch etwas lernen und mich weiterentwickeln. Und so hat die Sendung immerhin eines geschafft. Sie hat mich zum Nachdenken animiert. Damit ist sie fast schon wieder preisverdächtig. Aber eben nur fast.
Morgendlicher Anruf
Es ist kurz nach neun. Ich liege in meinem Bett und überlege, ob ich genug Kraft habe aufzustehen. Noch bevor ich eine Antwort finde, frage ich mich, ob es heute schneien wird, ob ich den Tag in der Wohnung verbringen muss, weil ich bei Schnee nicht Auto fahre und Schnee meist doof finde oder ob es gar nicht schneit und ich am Nachmittag zum Training kann.
Während ich mich in meinen Gedanken verliere, klingelt das Telefon. Ein Blick aufs Display lässt mich erkennen, dass es jemand vom Jobcenter ist. Ich überlege, ob ich mich tot stellen soll, entscheide dann aber, dass das albern wäre und gehe ran. Es ist meine Arbeitsvermittlerin. Sie fragt, ob ich mich bei der Personalvermittlung beworben habe. „Ja. Natürlich. Habe aber noch nix von denen gehört.“ Sie sagt, dass sich das erledigt hat und die bereits jemanden eingestellt haben. Das nenne ich mal eine schöne Mitteilung. Aber weil ich ein erfahrener Arbeitsloser bin, freue ich mich natürlich nicht. Das würde nur Ärger geben. Da die Arbeitsvermittlerin nicht mehr wollte, verabschieden wir uns voneinander. Kaum haben wir aufgelegt, frage ich mich, wieso der Kontakt zum Jobcenter nicht immer so nett sein kann. Bei solchen Anrufen habe ich auch nichts dagegen, wenn ich am frühen Morgen aus meinen aufregenden Gedanken gerissen werde. Andererseits sind solche Anrufe aber auch ziemlich unsinnig. Oder?
Muttermale
Was wären Cindy Crawford und Peter Maffay ohne ihre Muttermale? Schöner. Zumindest in meinen Augen. Mögen diese Makel auch zu ihren Erkennungszeichen geworden sein. Schön ist anders. Zumindest für mich. Meiner Meinung nach sind diese Muttermale, Leberflecken, Warzen und was es sonst für Verunstaltungen gibt, vollkommen nutzlos und überflüssig. Sicherlich gibt es Muttermale, die nicht weiter auffallen, weil sie klein sind oder sich irgendwo verstecken, wo sie nicht auffallen. Dennoch sind und bleiben sie unnützes Zeug.
Und obwohl ich weiß, dass die Dinger unnütz sind und mich stören, manchmal sogar ekeln, habe ich mir auch einige davon wachsen lassen. Doch weder haben sie mich bekannt gemacht noch irgendwie nach vorne gebracht. Und so ist es wenig verwunderlich, dass ich diese Muttermale nicht mehr haben will. Zwei dieser kleinen Pestbeulen habe ich mir bereits entfernen lassen. Und weil mir das so gut gefiel, sitze ich heute beim Hautarzt, um mich von einem weiteren dieser kleinen, widerlichen Male befreien zu lassen. Das Muttermal ist zwar nicht krank oder irgendwie gefährlich, aber es hat sich verändert. Nicht in der Breite, sondern in der Höhe. Für mich ist das inakzeptabel. Was bildet das kleine Mistding sich eigentlich ein? Deshalb wird es heute sterben. Zuerst gibt es eine kleine Spritze. Diese sorgt dafür, dass sich ein kleiner Hügel direkt unter dem Muttermal bildet. Sieht lustig aus. Kaum ist der Hügel sichtbar, wird der Laser eingesetzt. Und kaum sind fünf Sekunden um, ist das Muttermal weg. Was für eine Freude. Ich schaue auf die Stelle, die über vierzig Jahre von einem Muttermal besiedelt war und bin zufrieden. Alles so, wie es sein muss. In dieser Stimmung würde ich am liebsten weitere Muttermale mit der Laserkanonen beschießen lassen, doch das kann ich mir nicht leisten, denn so eine Behandlung, die in meinem Fall keine Minute gedauert hat, kostet 35€. Und das ist selbst für einen Vorzeigearbeitslosen, der nebenbei ehrenamtlich arbeitet, etwas viel. Dennoch bin ich mir sicher, dass dies nicht das letzte Muttermal war, welches ich aus purer Freude von meinem Körper entfernen ließ.
Stuhlproben und mehr 2
Der Termin für die Magenspiegelung ist am 23. Januar 2013. Bis dahin werde ich mit Hilfe des Heilpraktikers versuchen, die Beschwerden zu lindern. Das Ergebnis der Stuhlprobe, das klingt fast nach einem Test der Stiftung Warentest zu Sitzmöbeln, war ja nicht so prickelnd. Scheiße ist hier das richtige Wort. Zu viele Kolibakterien und Clostridium species tummeln sich in meinem Darm. Dafür sind von irgendwelchen guten Species zu wenig da. Nämlich von Enterococcus und Bifidobacterium. Die müssen aufgerüstet werden, um die anderen zu besiegen. Ganz schön was los in so einem Darm. Um das Gleichgewicht herzustellen, hat mein Heilpraktiker einen Plan erstellt. Insgesamt acht verschiedene Substanzen sollen den Darm wieder in einen ordnungsgemäßen Zustand versetzen. Danach sollte Ruhe herrschen. Der Kampf kann beginnen.
Zu Hause angekommen bestelle ich die ersten fünf Mittel zur Bekämpfung und zahle dafür 75€. Spätestens jetzt werden viele sagen, dass das alles Blödsinn ist, nur Geld kostet und ich doch besser zum Arzt gehen soll. Da war ich. Der Arzt, der die Magenspiegelung durchführt wollte nix von Darmbakterien wissen und wiegelte fast entsetzt ab. Er bot aber an, wenn die Magenspiegelung nichts ergibt, mich auf Nahrungsmittelunverträglichkeiten zu testen. Immerhin etwas. Bis es soweit ist gebe ich mein Geld für eine natürliche Darmreinigung aus. Ist zwar teuer, aber da ich nicht ausgehe und keine teuren Hobbys pflege, kann ich mir das wohl leisten. Die letzten drei Mittel werden allerdings noch teurer. Mittel sechs und sieben kosten je zwanzig Euro, Mitten Nummer Acht gleich 75€. Da kann ich nur hoffen, dass ich mit einer Packung drei Monate auskomme, denn sonst wird es selbst mir zu teuer.
Kommende
Zum vierten Mal nehme ich heute an einer Veranstaltung zum Thema SGB II im Sozialinstitut Kommende teil. Wegen schlechter Wetterverhältnisse erscheinen viele Teilnehmer recht spät, manche sogar erst nach Beginn der Veranstaltung. Das macht aber nichts, man ist hier sehr sozial.
Bevor es losgeht, stellt mir der Bürgerarbeiter aus Kamen, der auch schon mal besser aussah, den neuen Bürgerarbeiter aus Bergkamen vor. Dieser ist eine Mischung aus einem Insekt und einer Naturkatastrophe. Seine Zähne wachsen scheinbar unkontrolliert in seinem Mund umher, seine Hautunreinheiten wirken so, als würden sie gleich zerplatzen und in alle möglichen Richtungen spritzen. Er sieht nicht aus wie jemand, der anderen hilft, sondern wie einer, der Hilfe benötigt. So kann man sich vom äußeren Eindruck täuschen lassen. Seinen BVB-Schal trägt er sehr ordentlich mit dem BVB Logo nach vorn. Während ich ihn betrachte, merke ich, dass ich noch immer ein Mensch voller Vorurteile bin. Das ist mir unangenehm und ich schäme mich dafür. Der hat sicher kein leichtes Leben. Armer Kerl.
Wenig später treffen Bürgerarbeiterin 1 und Bürgerarbeiterin 2 ein. Wir sind jetzt komplett. Doch kaum sind wir komplett gibt es schon die ersten Verstimmungen. Der Bürgerarbeiter aus Kamen bietet Bürgerarbeiterin 2 seinen Flaschenöffner an. Bürgerarbeiterin 2 bekommt das irgendwie nicht mit und besorgt woanders einen Flaschenöffner. Was dann passiert kann ich nicht genau sagen. Meiner Meinung nach nichts Wesentliches. Dennoch wird der Bürgerarbeiter aus Kamen sehr böse. Er brüllt Bürgerarbeiterin 2 an, sie soll ihm sagen, wenn ihr etwas nicht passt. Was ihr einfällt seinen Flaschenöffner abzulehnen und sie soll bloß aufpassen. Andere Teilnehmer schauen irritiert. Bürgerarbeiterin 2 versteht die Welt nicht. Ich beobachte den Bürgerarbeiter aus Kamen und frage mich, ob er nun völlig den Verstand verloren hat und was ihn wohl bedrückt. Ich vermute, dass er einfach sauer auf sich und das Leben ist. Denn sein Bauch wird immer dicker, er trägt Kleidung, die schlecht riecht und leidet an Kreisrundem Haarausfall. Ich gehe einfach davon aus, dass ihn das deprimiert und so wütend macht. Ein bisschen tut er mir Leid. Haarausfall ist sicher keine Sache, die man so leicht wegsteckt. Und wenn meine Kleidung dann auch noch so riechen würde und jemand meinen Flaschenöffner ablehnt, da würde ich mich auch sehr unwohl fühlen und unzufrieden schimpfen.
In der traditionellen Vorstellungsrunde erfahre ich, dass die meisten Teilnehmer als Betreuer arbeiten. Unsere kleine Truppe passt meiner Meinung nach nicht wirklich her. Während der Veranstaltung verstärkt sich mein Gefühl immer mehr. Vielleicht finde ich es gerade deshalb so toll, dass wir, obwohl recht fehlplatziert, an dieser Veranstaltung teilnehmen dürfen und dass unser Arbeitgeber für jeden von uns 40€ hierfür ausgibt. So positiv habe ich das bisher nie sehen können. Ich mache Fortschritte.
Weil Bürgerarbeiterin 2 mich auch hier Chef nennt, glauben einige andere Teilnehmer das scheinbar. Ich fühle mich irgendwie zu unrecht aufgewertet. Andererseits gefällt mir das aber auch. Ich wäre sicherlich ein guter Chef. Schade nur, dass ich von fast gar nichts eine Ahnung habe. Ich bin gespannt, ob ich im nächsten Jahr noch ehrenamtlicher Mitarbeiter bin und nochmals an einer dieser Veranstaltungen teilnehmen darf.
Neues Fitnessstudio und drei Wetterexperten
Heute besuche ich das neue Fitnessstudio in Lünen, um zu testen, ob ich demnächst immer hier trainiere oder lieber weiter nach Dortmund fahre.
Positiv finde ich, dass ich direkt vor dem Eingang einen Parkplatz bekomme. Dass sich das Studio auf zwei Etagen befindet, finde ich gewöhnungsbedürftig. Was mir nicht gefällt ist die Anordnung der Trainingsgeräte. Teilweise sitzt man sich gegenüber. Das mag in einem Tanzcafé durchaus angebracht sein, in einem Fitnessstudio finde ich es unangemessen. Ich mag nicht trainieren, wenn wir jemand direkt gegenüber sitzt und mich dabei anglotzen kann. Und ich will auch niemanden dabei sehen. So werde ich an einigen Geräten definitiv nicht trainieren können. Zeit nach unten zu gehen. Dort trainieren drei Männer, die mir schon oben unangenehm aufgefallen sind. Sie sind zu laut, zu auffällig, zu präsent. Ich mag das nicht.
Weil das Studio nicht wirklich groß ist, habe ich das Vergnügen, während der letzten halben Stunde immer in unmittelbarer Nähe der drei trainieren zu dürfen. Das verschafft mir die Ehre, deren unfassbar geniale Unterhaltungen mitzuhören. Und ich erfahre Dinge, die mich in meinem Leben durchaus weiterbringen können. Zum Beispiel weiß ich nun, dass der BMI in manchen Abteilungen total hoch ist. Wie er in der Abteilung der drei Experten ist, kriege ich leider nicht mit, weil ich unkonzentriert bin, während ich mit meinen Kindergewichten trainiere. Später bin ich konzentrierter und erfahre, dass Tom, der nicht dabei ist, ein Frauenmagnet ist. Wenn einer der drei sich an ihn hängt, fällt jedes Mal eine Frau für ihn ab. Eigentlich für jeden, der mit Tom unterwegs ist. Tom ist cool und der Schnarchhahn in Werne eines seiner Jagdreviere. Wenn ich mal was zum ficken suche, werde ich auf Tom zurück kommen. Ich brauche nur hier trainieren und einen der Jungs nach Tom fragen. Einer der drei ist nämlich heute den zwölften Tag in Folge hier. Von 0 auf 200, nennt er das. Alternativ suche ich Tom einfach im Schnarchhahn. Der ist da wohl bekannt. Weil die drei lauter sind als fünfzehn Schimpansen während der Paarungszeit, dauert es nicht lange, bis sie vom Trainer angesprochen werden. Er fragt, ob die drei Kaffee zu ihrer Plauderrunde haben wollen. Leider verstehen sie den subtilen Wink mit dem Zaunpfahl nicht und fühlen sich ermutigt, ihr Gespräch für alle hörbar weiter fortzusetzen. Der Trainer erkennt, dass die drei hoffnungslose Fälle sind und verzieht sich wieder. Es folgt das Gespräch über Dirk. Dirk hat in den letzten Monaten so viel zugenommen, dass er eine Dose auf seinem Bauch abstellen kann. Dies hat er vor wenigen Tagen seinen Kollegen vorgeführt. Da haben die drei heute noch was zu lachen. Ich freue mich immer, wenn ich glückliche und vergnügte Menschen in meiner Nähe habe. Trotzdem wäre es mir sehr Recht, wenn sie jetzt gingen. Tun sie aber nicht. Stattdessen kommen sie zum Wetter und stellen fest, dass es heute sehr glatt wird, sollte es noch regnen. Es sind etwa 7 Grad da draußen, dennoch sind die Jungs sich sicher, dass es bei Regen glatt wird. Deren geniale Logik haut mich beinahe von meinem Trainingsgerät. Und es wird noch interessanter. Um ihre These zu untermauern, weisen sie darauf hin, dass der Pegel der Seseke heute stark gestiegen ist. Merke. Ein gestiegener Pegel deutet auf Glatteis hin. Allerdings nur, wenn es Regen gibt. Weil zwei der drei Wetterexperten nur unwesentlich jünger als ich sind, einer sogar älter, könnte ich ihnen noch stundenlang zuhören, um weitere Dinge über das Leben zu erfahren, fürchte aber, dass ich das nicht aushalten werde und beende das Training.
Gegen 17.00 Uhr fängt es tatsächlich an zu regnen. Von Glatteis keine Spur. Da werden die drei gewiss total überrascht sein, wenn sie das mitkriegen sollten. So ein Wetterphänomen haben sie sicher noch nie erlebt.
Sonderling
Je älter ich werde, desto seltsamer werde ich und desto weniger habe ich zu erzählen.
Früher hatte ich durchaus etwas zu erzählen. Heute kaum noch. Und wenn dann eigentlich nur von meinen Tagen als ehrenamtlicher Mitarbeiter. Außer dieser einmal in der Woche stattfindenden Tätigkeit erlebe ich immer seltener etwas, worüber ich etwas erzählen kann. Und so bin ich als Gesprächspartner in etwa so unterhaltsam wie ein vollgerotztes Taschentuch. Es ist traurig, wenn man außer über seine Arbeit nichts zu erzählen hat. Sicherlich könnte ich über die Filme reden, die ich ständig sehe oder über irgendwelche Dinge, die ich im TV erlebt habe, aber das ist ziemlich arm. Würde ich am Leben teilnehmen oder interessante Hobbies haben, dann könnte ich sicherlich mit Geschichten darüber unterhalten. Doch da dem nicht so ist und ich mich immer seltener aufraffen kann, etwas zu unternehmen, werde ich in Unterhaltungen immer überflüssiger. Dabei war ich früher, es muss Jahrzehnte her sein, ein witziger Gesprächspartner. Doch mittlerweile bin ich zu isoliert und geistig abwesend, um ein solcher Gesprächspartner sein zu können. Ich werde mehr und mehr zu einem echten Sonderling. Überflüssig und austauschbar. Und keine Besserung in Sicht, weil mich einfach nichts interessiert, was für andere interessant sein könnte. Und je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger möchte ich Kontakt zu anderen, weil ich denen das nicht zumuten möchte. Könnte ja sein, dass die dann denken, ich finde sie doof, weil ich nicht rede. Dabei habe ich nur nix zu sagen. Ich glaube, spätestens mit fünfzig bin ich total isoliert und lebe nur noch in meinem eigenen Exil. So erschreckend es auch erscheinen mag, es ist doch unvermeidbar und vermutlich sogar so gewollt. Weil es das Beste ist. Für mich und meine Umwelt. Ich passe nämlich nur bedingt zum Leben. Wozu also versuchen, es zu ändern? Und was wäre die Welt ohne Sonderlinge? Ich weiß es nicht.
Fremdkörpergefühl
Am 2. Weihnachtstag treffe ich mich mit Carina und Isabelle. Es ist das erste Mal, dass ich mich mit Teilnehmern meiner Psychotherapie-Gruppe privat treffe. Normalerweise darf man das nicht. Und doch sitzen wir drei bei Carina in der Wohnung und sind unsere eigene, kleine Psychogruppe nur ohne Therapeutin. Die Themen sind ähnlich wie bei unseren Gruppensitzungen, nur lockerer, weil störende Gruppenmitglieder nicht dabei sind.
Während unseres Beisammenseins bekomme ich das Gefühl, dass ich hier nicht hergehöre. Das liegt nicht nur daran, dass ich nichts zu sagen habe, sondern auch daran, dass ich nur mäßig unterhaltsam bin. Ich bin eine Art eingeladener Fremdkörper in Menschengestalt. Kurz überlege ich, ob es nicht besser wäre, mich zu verabschieden, doch weil mir das peinlich wäre, entscheide ich mich zu bleiben. Eine Zeit lang sitze ich einfach nur da und bekomme nicht wirklich mit, was gesprochen wird. Nach einer Weile reiße ich mich zusammen und verhalte mich so normal, wie es mir möglich ist. Die beiden wissen ja, dass ich nicht ganz dicht bin. Fünf Stunden dauert unser Treffen und ich bin erstaunt, dass ich so lange ertragen wurde. Auf der Fahrt nach Hause überlege ich, ob es nicht besser wäre, in Zukunft zu Hause zu bleiben. Da störe ich niemanden und muss nicht miterleben, wie überflüssig ich bei Treffen bin mit meinem nicht vorhandenem Humor und meinen nicht erlebten Erlebnissen. Irgendwie bedauere ich, dass der versprochene Untergang der Erde nicht stattgefunden hat. Dann müsste ich mir solche Gedanken nicht machen.
Nächstes Jahr geht es weiter. Aber zumeist ohne mich, denn ich bin nur ein sinnloses Lebewesen auf zwei Beinen, dass in etwa so nützlich ist wie ein Buch in dem kaum noch Seiten sind. Vielleicht ist auch alles gar nicht so schlimm und ich habe nur eine Jahreswechsel Depression, weil ich weiß, dass nichts besser wird und ich auch im nächsten Jahr keine wirklichen Ziele und erst Recht keinen echten Nutzen haben werde. Also alles bleibt so wie es ist.
Das Jahr geht vorbei
Ende des Jahres ist das Wetter sehr unzufrieden. Es ist viel zu warm für die Jahreszeit und heftige Winde peitschen den Regen durch die Gegend. Der vorletzte Tag macht keinen guten Eindruck, passt aber perfekt zu meiner Stimmung. Die Dunkelheit in mir passt prima zur Dunkelheit da draußen. In mir herrscht eine Mischung aus Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Resignation. Gewürzt wird der Zustand mit Magenschmerzen. Es ist einer dieser Tage, an denen ich aufgeben möchte. Einfach einschlafen und nicht mehr aufwachen, damit das Leid endlich aufhört. Ich bin antriebslos und quäle mich einfach nur von einem Moment zum nächsten. Vielleicht ist das meine persönliche Silvesterkatastrophe. Möglicherweise sind Jahreswechsel aus irgendeinem Grund eine Belastung für mich. Ob ich innerlich zu viel von Silvester und dem Jahreswechsel erwarte? Oder bin ich deprimiert, weil ich keinen Grund sehe, ein neues Jahr zu beginnen, weil mir bewusst wird, wie wenig mich das weiterbringt? Es kann durchaus sein, dass diese Stimmungsschwankungen zu meinem Leben gehören und ich mich einfach in Geduld üben muss, weil es mir früher oder später besser gehen wird. Was aber, wenn nicht? Was, wenn dieser Zustand nun der Normalzustand wird? Daran mag ich nicht denken, davon wird mir nur schlecht.
Den morgigen Abend plane ich, alleine zu verbringen. Musik hören, dann vom Balkon aus das Feuerwerk betrachten und schlafen gehen. Ob es tatsächlich so kommt oder ob alles ganz anders wird, vermag ich in meinem Zustand nicht zu sagen.
Silvester mit mir
Obwohl es ein ganz normaler Tag sein sollte, ist der letzte Tag des Jahres es doch meistens nicht. Irgendetwas ist anders. Das beginnt schon am Vormittag. Die Geschäfte sind dermaßen voll, dass man annehmen könnte, es gibt danach nie wieder eine Möglichkeit und man müsse mit dem, was man heute kauft, bis zu seinem Tod auskommen. Dabei muss man nur bis zum zweiten Tag des kommenden Jahres überleben. Trotzdem scheint es so, als würde das Überleben davon abhängen, dass man am letzten Tag des Jahres nochmal einkauft.
Ab 13.00 Uhr schließen die Geschäfte. Bis 16.00 Uhr sind die meisten Geschäfte geschlossen. Außer Penny. Da ist länger geöffnet. Vermutlich ein Versuch, sich den Silvestertraditionen zu widersetzen. Es ist etwa 17.00 Uhr, als ich meinen letzten Spaziergang des Jahres mache. Die Straßen sind recht leer, die Geschäfte im Ort, außer Penny, haben geschlossen. Gegen 17.45 Uhr bin ich zurück in meiner Wohnung und schaffe es nicht, mich normal zu verhalten. Das muss an Silvester liegen. Gegen 20.00 Uhr schalte ich den Fernseher ein. Oliver Pocher stellt seine Lieblingslieder vor und quatscht zu viel. Will ich nicht sehen und schalte um. Nachrichten. Anschließend lande ich beim ZDF. Die ZDF-Hitparty unter der Führung von Andrea Kiewel. Fröhlich tanzend und singend kommen die Interpreten auf die Bühne. Frau Kiewel singt mit. Das Publikum ebenfalls. Das muss Silvesterfreude sein. Ich bin noch ganz überwältigt, da kommt auch schon der erste echte Auftritt. Mary Roos singt „Weit, weit weg“. Und ich merke, wie ich auftaue, tanzen will. Ich will gerade vom Sofa aufspringen, da steht Bernhard Brink auf der Bühne und gibt Gas. Jetzt möchte ich raus, mich bewegen, Frauen angucken. Der Geist von Silvester hat mich gepackt. Die Tänzerinnen sorgen für gute Optik und ich will mich paaren. Das wollte ich früher auch immer. Hat nie geklappt. Passend dazu läuft nun Crying at the Diskotheque. Mein Gott, was geht hier ab? Und dann steht Lena Valaitis auf der Bühne. Die ist fast siebzig und wirkt, als wäre sie zwanzig Jahre jünger. Toll restauriert. Und weil alle Playback singen, kommt der Sound über meine Anlage richtig gut rüber. Das Publikum tanzt ausgelassen, ich spüre, wie das Jahr mir aus den Fingern gleitet und drehe die Anlage auf. Moviestar. Ich höre alte Leute Musik, fühle mich fluffig und glaube, ich bin ein Partytiger. Ich muss unbedingt ausgehen im nächsten Jahr. Dieses Jahr habe ich keine Disko betreten und bin jetzt ganz durcheinander. Es kommt Andrea Berg, das alte Partyluder, auf die Bühne. Ich muss aufstehen und mich bewegen. Ich liebe das Leben. Die wilde Andrea sieht mit ihrem geilen Outfit aus, als würde sie heute noch viel Spaß haben. Kaum ist das Schlagerluder weg, kommt das nächste Partyluder auf die Bühne. Patrick Lindner. Der Patty. Ich bin kurz vorm durchdrehen. Keine Ahnung, was der da singt. Aber alle haben Spaß. Das Publikum veranstaltet eine Polonaise. Die sind echt zu blöd. Verwechseln den Patrick Lindner mit Gottlieb Wendehals. Deppen. Ob die alle betrunken sind, oder ist das so, wenn man ausgelassen feiert? Nächstes Jahr Silvester muss ich unbedingt ausgehen. Aber nicht wieder zu einer Kaffeefahrtveranstaltung. Ich will so eine richtige Party mit Ludern und allem was dazu gehört. Um alle etwas abzukühlen, quatscht nun Frau Kiewel von einem Twistmedley. Und schon geht es los. Bernhard Brink, Ireen Sheer, Lena Valaitis und Mary Roos geben Gas. Die müssen doch was genommen haben. Ich finde das peinlich. Die sollen aufhören, sonst schalte ich noch um.
Senderwechsel. RTL2. Werbung. Das ist doch krank. Warum zeigen die kein Konzert von Leonard Cohen, das würde mir gefallen. Stattdessen muss ich zurück zu den Schlagerrentnern und ihrem Twistmedley. Ob ich in dem Alter auch noch so abgehe? Das Publikum verlangt eine Zugabe und weiter geht’s. Die vier haben Spaß, das Publikum tanzt. Gut, dass das nicht live ist. Bis Mitternacht hält das sicher niemand durch. Ich jedenfalls nicht. DJ Ötzi singt von sieben Sünden in einer Nacht. Ob es eine Sünde ist, was ich hier mache? Oder sind es gar sieben Sünden auf einmal? Auf 3Sat ist ein Konzert von A-HA. Take on me. Das waren noch Zeiten. Da war ich genauso gestört wie heute. Nur war es mir damals noch nicht so bewusst. Rüber zum MDR. Goombay Dance Band. Noch ein Rentner, der für mich singt. Auch hier Playback. Zum Glück. Warum tu ich mir das nur an? Weiter zu VIVA. Gossip. Na also, geht doch.
Zwei Stunden später sitze ich noch immer da und gucke VIVA. Das ist durchaus deprimierend. Noch 85 Minuten bis zum Jahreswechsel. Zurück zum ZDF. Das ist doch alles Scheiße. Das ist wie warten auf etwas, was es nicht gibt. Zeit für einen Kamille-Fencheltee und Two and a half Men. Das hätte ich früher einschalten sollen. Um 23.42 Uhr nutze ich eine Werbepause und lande im Silvsterstadl. Alte Menschen und solche, die es gerne wären, tanzen wild durcheinander. Garniert wird der wilde Wahnsinn von einer Polonaise. Von Gottlieb Wendehals auch hier keine Spur. Das ist peinlich. Die müssen alle üble Pillen eingeworfen haben. Arme Zombies. Schnell umschalten. ZDF. Schwarzer Mann mit Sonnenbrille. Kenne ich nicht. Takata singt er. Hab ich schon mal gehört. Schnell zurück zu Pro7.
Um 00.00 Uhr stehe ich auf dem Balkon und betrachte das Feuerwerk. Bereits zum dritten Mal hintereinander betrachte ich es von hier oben. Scheint sich zu einer Tradition zu entwickeln. Und nie war es schöner. Minutenlang stehe ich da und schaue dem Feuerwerk zu. Zwischendurch werde ich irgendwie traurig. Keine Ahnung, ob das alles so richtig ist. Das Feuerwerk will scheinbar nie enden. Ich gehe zurück in die Wohnung. Das neue Jahr ist da. Hurra.
Jahresrückblick 2012
mir nur 1 Frau gegönnt – 2 Mal im Kino gewesen – 244 Filme geguckt – 1 Erkältung gehabt – 1x Joggen gewesen – zu häufig Nasenspray genommen – Achselhaare nur noch selten rasiert – 75€ für Zahnbehandlungen bezahlt – 152€ an einen Heilpraktiker bezahlt – 66,74 Euro für die Untersuchung meiner Ausscheidungen bezahlt – 85,20€ für Augenuntersuchungen bezahlt – ein Wochenende an der Nordsee verbracht (mit einer Frau) – in Sommernächten wegen nervender Mitmenschen wenig geschlafen – ein Stubenhocker geblieben – beim Sex meistens alleine gewesen – Hundesitter gewesen – zum Brillenträger mutiert – den ersten echten Lattenrost meines Lebens gekauft – meinen ersten Laptop bekommen – meine erste Nasenspülung gemacht – eine Weiterbildung gemacht – ehrenamtlich gearbeitet – ein Muttermal entfernen lassen