Juli 2011

01. Juli 2011
Leicht verspätet erscheine ich zu meinem ersten Arbeitstag. Zunächst werden mir ganz viele Menschen vorgestellt, die ich mir natürlich alle gar nicht merken kann. Meist vergesse ich Namen und Funktion der Leute, sobald man mir die nächste Person vorstellt. Scheinen aber alle recht nett zu sein, soweit ich das beurteilen kann. Nach der Vorstellungsrunde werde ich zu der Kollegin, Ulla, die mich anlernen soll, gebracht. Sie macht einen recht vernünftigen Eindruck für eine 48-jährige Frau mit blonden Haaren. Sie findet ihren Arbeitgeber und den Job doof, was sie mir recht schnell sagt, obwohl ich gar nicht weiß, ob ich sie überhaupt danach gefragt habe. Die meiste Zeit des Tages müssen wir damit verbringen, Statistiken zu führen. Besucherstatistiken, Wochenpläne, Monatspläne, andere Pläne und noch mehr. Alles muss irgendwo abgeheftet werden und gleichzeitig noch als Mail verschickt werden. Um den ganzen Papierkram zu verstauen, muss es irgendwo riesige Lagerhallen geben, die voll von ausgefüllten Formularen und anderem Kram sind. Man muss sogar ein Formular ausfüllen, um sich nach einem Krankenschein zurückzumelden. Die Formulare müssen mindestens in zweifacher Ausführung erstellt werden. Ich frage mich, wann da noch Zeit für den eigentlichen Job bleiben soll. Ich könnte in den nächsten Monaten durchaus völlig verrückt werden, so viel steht jetzt jedenfalls schon fest. Mein Arbeitsvertrag ist auch verwirrend. Mal steht da, dass mein Vertrag am 31.12.2011 endet. Ein paar Zeilen weiter steht, dass das Arbeitsverhältnis spätestens am 31.10.2011 endet. Ja, was denn nun? Zur Belohnung trage ich mir sofort eine Woche Urlaub ein. Alles andere wäre Unsinn. Freitags ist bereits um 15.00 Uhr Feierabend. Für mich ist selbst das zu spät. Ich bin echt gespannt, wie so ein Arbeitstag wohl aussieht, wenn zum ersten Mal Kunden ins Spiel gebracht werden.


Arbeiten-Schlafen-Modus
Als ich am Samstagmorgen entgegen meiner Gewohnheiten erst gegen 09.00 Uhr aus dem Bett klettere, mache ich mir noch keine Gedanken. Auch die Tatsache, dass mein Körper sich schwerer als gewöhnlich anfühlt, lässt mich noch nicht ahnen, dass hier möglicherweise etwas nicht stimmt. Selbst als ich am frühen Abend einschlafe und erst nach einer Stunde wieder zu mir komme, erscheint mir das nicht besorgniserregend. Doch als ich auch am Sonntagmorgen nicht wirklich wach werde und mein Körper gegen 09.00 Uhr nur unter größten Anstrengungen aus dem Bett zu bekommen ist, bin ich irritiert, denn ich bin vollkommen im Arsch, obwohl ich in keinem Arsch stecke. Als richtiger Arbeitsloser hatte ich solche Schwierigkeiten nicht. Da war ich auch viel früher wach. Und jetzt will mein Körper nach nur einem Arbeitstag nur noch schlafen. Möglicherweise ist das mein Arbeiten-Schlafen-Modus. Mein Körper wird, während ich zu Hause bin, vermutlich nur noch schlapp sein und schlafen wollen. Das macht mir irgendwie Angst. Um 10.00 Uhr muss ich mich wieder hinlegen, denn ich bin zu müde, es nicht zu tun. Später vor dem Fernseher schlafe ich natürlich auch wieder ein. Das ist ganz schön merkwürdig.


04. Juli 2011
Die ersten Kunden, die mir präsentiert werden, sind recht umgänglich. Wenn alle Kunden so sind, dann lässt sich das hier wohl sieben Monate aushalten. Was mir weniger gefällt ist die Tatsache, dass ich am Ende jeden Monats meine Bewerbungsbemühungen nachweisen muss. Wie soll ich mich bewerben, wenn ich den ganzen Tag hier bin? Das ist doch verrückt und unlogisch.
Um 13.30 Uhr nehme ich an einer Schulung zum Thema SGB II teil. Vier Stunden soll die Schulung dauern. Das übersteigt meine Arbeitszeit. Als ich den Unterrichtsraum betrete, erblicke ich vier echte Härtefälle. Die sehen nicht nur aus wie Berufsarbeitslose, die riechen auch so. Als der Dozent dem Arbeitslosen, der am Fenster sitzt, sagt, dass er das Fenster schließen soll, wird es lustig. Der Arbeitslose schließt das Fenster und hält eine Art Rede. „Das ist echt besser so. Viel ruhiger. Als die Dozentin gestern gesagt hat, dass ich das Fenster schließen soll und ich es gemacht habe, war es auch sofort besser.“ Fassungslos starre ich ihn an. Worte fallen mir keine ein. Er hat vier Kinder von zwei Frauen. Die Frauen leben selbstverständlich auch vom Amt, wie er sagt. Seine Kinder dürfen ihn besuchen, aber er könnte gut auf seine Kinder verzichten. Wenn es nach ihm ginge, dann würde er sie nicht sehen. Wenn es nach mir ginge, hätte er verhüten sollen. Und wenn ich ganz ehrlich bin, hätten seine Eltern auch verhüten sollen. Wieso vermehren sich die Dummen nur wie die Karnickel? Und wieso unternimmt niemand etwas dagegen?
Nach der Pause kommt ein anderer Gruppenteilnehmer mit einem Jobangebot in den Klassenraum zurück. Er zeigt es mir und sagt: „Ich krieg ’nen Job.“ – „Toll.“ Mehr kann ich nicht sagen. Diese vier Arbeitslosen machen mich echt fertig. Und so frage ich mich, warum sich der Himmel jetzt nicht öffnet und uns fünf nutzlose Wesen verschlingt. Auch wenn die vier tausendmal schrecklicher und nutzloser als ich zu sein scheinen, sind wir fünf doch nur Ballast für diese Welt. Ich möchte weinen, doch ich habe gerade keine Tränen zur Verfügung. Also sitze ich einfach so da, starre vor mich hin, warte auf die Erlösung, oder wenigstens die Apokalypse, doch mein Warten ist umsonst. Wir fünf werden heute nicht sterben, sondern unsere erbärmlichen Leben fortsetzen. Um 16.00 Uhr stehe ich auf und verlasse den Unterricht. Meine Arbeitszeit ist um. Ich muss weg.


05. Juli 2011
Der dritte und letzte Tag in Kamen ist recht entspannt. Zumindest bis der Drucker kaputt geht. Von da an geht nichts mehr, denn wie soll man ohne Drucker Bewerbungen ausdrucken? Geht nicht. Also werden alle Kundentermine für den Rest des Tages abgesagt. Somit besteht meine einzige Tagesaufgabe darin, 1,5 Liter Mineralwasser während der Arbeitszeit zu trinken. Und ich schaffe es tatsächlich, was mir auf der Heimfahrt sehr bewusst wird. Um mich nicht einzunässen, fahre ich besonders schnell nach Hause. Und so habe ich heute wieder etwas gelernt. Was man oben hinein schüttet, muss schon bald wieder unten heraus.


06. Juli 2011
Am letzten Tag, bevor ich auf mich alleine gestellt bin, muss ich zu einer Fachtagung. Thema: SGB II (Hartz IV) Aktuelle Änderungen – neue Gerichtsurteile. Die Tagung findet in der Kommende in Dortmund statt und bei der Gelegenheit lerne ich die Mitarbeiterin aus Bergkamen kennen. Ansprechende Figur, gute Körperhaltung. Der erste Eindruck ist gut. Ich würde sie mir gerne gönnen. Also setze ich sie auf meine Liste. Auf Platz 26. Damit ist mit 98,6%iger Sicherheit ausgeschlossen, dass ich sie mir noch in diesem Leben gönnen werde. Das macht eine Zusammenarbeit gleich viel leichter. Entgegen der Ankündigung meines Vorgängers redet sie sogar mit mir. Vermutlich hatte sie einfach keine Lust mit meinem als laut zu bezeichnenden Vorgänger zu reden. Die Tagung ist teilweise interessant, teilweise ermüdend. Das Mittagessen okay. Die Teilnahmebescheinigung am Ende eine Bereicherung für meine Teilnahmebestätigungensammlung.


07. Juli 2011
Erster Tag in meinem Büro. Ich erledige den Bürokram und vereinbare erste Termine. Kaum steht der erste Termin bevor, wird er auch schon abgesagt. Sehr vielversprechend. Die meisten Anrufer verstehe ich nicht wirklich. Muss sicher an mir liegen. Gegen Mittag kommt tatsächlich eine Frau und möchte Bewerbungsunterlagen. Die Frau ist in meinem Alter und arg nervös, was sie mir auch ständig sagt. Auf meine Frage, warum sie denn so nervös ist, sagt sie, dass es daran liegt, dass sie gleich zum Jobcenter muss. Glaube ich ihr nicht. Ich denke, sie ist nichts weiter als ein Nervenbündel, dass auf den Namen Eulalia hört. Vielleicht irre ich mich aber auch. Nach anderthalb Stunden hat Eulalia ihre Bewerbungsunterlagen von mir erstellt bekommen und sehr viel geredet. Durchaus zufrieden verlässt sie mein Büro. Verrückte Welt. Weil danach nichts mehr passiert, fange ich an, mich zu langweilen und dekoriere das Büro um.


08. Juli 2011
Ab 11.00 Uhr bin ich völlig alleine in dem Gebäudekomplex und finde das alles irgendwie mysteriös. Weil auch heute kaum Leute eine Bewerbung wollen, räume ich weiter auf bzw. um. In einer Ecke entdecke ich einen Staubsauger. Obwohl ich meiner Meinung nach nicht als Putzkraft eingestellt bin, schnappe ich mir das Teil und sauge durch. Und weil es mir so viel Freude bereitet, sauge ich die Tische gleich mit. Ob ich eine gute Putzkraft wäre?


Unter den Tribünen
Spontan und unvorbereitet geht es am Samstag in den Signal Iduna Park. Natürlich nicht zum Fußball, sondern zu einer Veranstaltung mit dem Titel „Unter den Tribünen“. Das klingt so interessant, dass ich es unbedingt erleben muss. Weil ich schon lange nicht mehr aus war, weiß ich nicht, was ich anziehen soll. Außerdem weiß ich gar nicht mehr, welches Parfum zu welchem Deo passt. Ich entscheide mich für AXE Anti Hangover und Givenchy Pour Homme und finde, dass ich recht lecker dufte. Optisch sehe ich heute für mein Alter auch ganz passabel aus. Die Haare sind in der perfekten Länge, so sollten sie immer sein. Ich bin bereit.
Um 22.05 Uhr hole ich Sam ab, wir machen uns auf den Weg und dann betrete ich zum ersten Mal in meinem Leben den Signal Iduna Park. Natürlich dürfen wir nur unter den Tribünen umherlaufen, doch von dort kann man auch einen Blick auf die Tribünen werfen. Sieht alles sehr ordentlich aus. Schöne Sitzplätze, schöner Rasen. Unter den Tribünen gefällt es mir dagegen weniger. Die Getränke werden in großen Plastikbechern ausgegeben und diese Plastikbecher liegen selbstverständlich überall rum und man tritt ständig drauf. Insgesamt sind mir zu viele Menschen hier. Dort wo die beste Musik gespielt wird, sind die Menschen zu jung. Wir suchen uns einen anderen Platz. Auf dem Weg dorthin treffen wir eine Bekannte von Sam. Er sagt, dass wir, also sie und ich, uns kennen. Ich kann mich nicht erinnern. Sie wohl auch nicht. Also werden wir bekannt gemacht. Völlig unnötig, denn in spätestens zehn Minuten werde ich wieder vergessen haben, wer sie ist. Und sollten wir uns irgendwann über den Weg laufen, werde ich sie garantiert nicht erkennen. Wenige Augenblicke später stehen wir wieder an einem Platz, für den wir meiner Meinung nach zu alt sind. Sam scheint es aus unerklärlichen Gründen anders zu sehen. Die Musik ist eine Zumutung. Sam kommt mit einem Typen ins Gespräch. Dieser siezt ihn und sagt, dass die Frauen hier zu jung für Sam sind. Sam ist getroffen und kann es nicht fassen, dass er gesiezt wird und zu alt für diesen Bereich sein soll. Ich finde uns auch zu alt für diesen Bereich. Allerdings finde ich es in diesem Fall nicht schlimm, weil es mir hier sowieso nicht gefällt. Es wird immer voller. Menschenmassen strömen herein und rempeln sich unnötigerweise an. Dabei verschütten einige ihre Getränke. Ein Hampelmann kippt mir sein Bier über Hemd und Hose. Ich schaue ihn an. Fast ohne Gefühlsregung. Maximal ein kleiner Hauch Verachtung ist in meinem Blick. Er gestikuliert sinnlos rum. Es scheint so, als wolle er darauf hinweisen, dass er angerempelt wurde. Ich schaue ihn weiter einfach nur an. Er sieht aus wie ein Vollidiot. Ich drehe mich um. Ab und zu sehe ich irgendeine Frau an. Aber nicht, weil sie mich interessiert, sondern weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll. Wenn eine dieser Frauen es bemerkt und mich ansieht, schaue ich sie so lange an, bis sie wieder wegguckt. Meist dauert so ein Vorgang nur den Bruchteil einer Sekunde. Wir wechseln den Standort. Nun stehen wir bei DJ Firestarter. Hier ist unsere Altersklasse. Manche der Leute habe ich schon öfter im FZW gesehen. Das ist aber nicht von Bedeutung. Es strömen immer mehr Leute herein. Mir ist es längst zu voll und ständig verschüttet irgendwer sein Getränk. Das ist einfach nichts, wofür ich mich begeistern kann. Sam, der zwar von einigen Frauen sehr angetan ist, sich aber wegen eines Pickels in seinem Gesicht nicht wohl fühlt, scheint ebenfalls keine große Lust mehr zu haben. Und so verlassen wir um 00.31 Uhr das Westfalenstadion. Ist auch spät genug. Normalerweise würde ich schon seit mindestens zwei Stunden schlafen.


Hundesitter gesucht
Nachdem ich Anfang des Jahres eine Anzeige aufgegeben habe, in der ich meine Dienste als Hundesitter angeboten habe, bekomme ich heute, fast ein halbes Jahr später, einen Anruf. Eine Frau erzählt, dass sie meine Nummer von einer Bekannten bekommen hat und fragt, ob ich Ihren Hund Anfang September zu mir nehmen kann. Es handelt sich um einen Chihuahua. Ich sage einfach zu, ohne wirklich zu wissen, was ein Chihuahua ist. Nach dem Gespräch schaue ich mir die Hunderasse im Internet an. Ziemlich klein. Fast schon winzig. Egal, meine Karriere als Hundesitter ist gerettet.


12. Juli 2011
Meine Kunden sind teilweise sehr unterhaltsam. Manche sind kaum im Büro, schon duzen sie mich. Zwei solcher Exemplare, echte Roma, sitzen jetzt vor mir. Sie fühlen sich hier scheinbar wie zu Hause und kommen öfter her, um sich Bewerbungen schreiben zu lassen. Nachdem wir uns aufs Duzen geeinigt haben, schreibe ich dem Älteren eine Bewerbung. Als sie fertig ist, tackert er Anschreiben und Lebenslauf zusammen. Ich sage ihm, dass man das so nicht macht. Er löst die Klammer, verknickt dabei die Unterlagen und findet dennoch, dass er sie so abschicken kann. Ich bin anderer Meinung, doch lasse ihn gewähren. Die anderen Bewerbungen verknickt er ebenfalls mit großer Präzision. Ich weise ihn darauf hin, dass niemand solche Bewerbungen will. Er sagt, dass er es weiß, knickt aber fröhlich weiter. Ich lasse ihn gewähren, bringt ja eh nichts. Die beiden sagen, dass ich viel lockerer als mein Vorgänger bin. Den fanden sie irgendwie komisch. Ich bin auch komisch. Alle Menschen sind komisch. Demnächst soll ich Bewerbungen für den Jüngeren schreiben. Ich bin sehr gespannt, wie er mit seinen Bewerbungen umgeht und freue mich schon jetzt auf den nächsten Besuch der beiden lustigen Vögel.
Der nächste Kunde duzt mich schon am Telefon und redet als würden wir uns schon länger kennen. Beim Termin stellt er fest, dass wir uns ja doch nicht kennen, was ihn aber nicht davon abhält mich weiter zu duzen. Dazu erzählt er mir seine halbe Lebensgeschichte. Ich kann kaum folgen und meine Augen kaum offen halten, was ihn zum Glück nicht stört. Abschließend möchte er noch einen Brief ans Jobcenter schreiben. Eine echte Abwechslung zum Bewerbungseinerlei. Gehen möchte er danach aber doch noch nicht. Also erzählt er mir weiter irgendwas. Ich schaffe es bis zum Schluss seiner belanglosen Ausführungen nicht einzuschlafen und bin fast stolz auf mich.
Ein schwitzender Kunde gibt mir zum Abschied die Hand. Er hat richtige Schweißhände, was ich maximal eklig finde. Sofort nachdem er mein Büro verlassen hat, sprühe ich meine Hände mit Desinfektionsmittel ein. Anschließend gehe ich mir die Hände waschen. Danach endet der aufregende Tag im Büro.


13. Juli 2011
Nächster Tag, nächster Kunde. Dieser erzählt mir von seinen Krankheiten und dass er unbedingt arbeiten will. Er erzählt alles sehr ausführlich, während ich gegen das Einschlafen ankämpfe. Instinktiv nicke ich an den richtigen Stellen, murmle ab und zu irgendwas, von dem ich glaube, dass es jetzt angebracht ist und weiß doch nicht, wovon der Mann redet. Hauptsache er fühlt sich wohl. Und das tut er scheinbar. Ich bin schon ein herrlicher Kummerkasten.
Der nächste Kunde ist ein echtes Nervenbündel. Er zappelt, redet viel und zu schnell und ist Onlinebewerbungen gegenüber sehr misstrauisch. Ich sage ihm, dass alles gut ist. Nach einer Weile beruhigt er sich tatsächlich ein wenig. Vielleicht bin ich ein Menschenflüsterer. Kaum ist er weg, steht der nächste Kunde im Büro und gibt mir die Hand. Mir wird schlecht. Seine Hände sind quasi Schweißgebadet. Ich schaffe es gerade so den Brechreiz zu unterdrücken und wische mir die Hand an meiner Hose ab. Immer und immer wieder. Während er mir gegenüber sitzt, kann ich sehen, wie der Schweiß auf seiner Stirn und unterhalb der Nase entsteht. Ich will das nicht. Er wischt sich den Schweiß ständig mit seinen Händen ab und ich taufe ihn auf den Namen Schweißi. Als ich seine Bewerbung auf seinen USB-Stick kopiere, sagt er mir, dass auf dem Stick noch Filme sind, die ich mir kopieren kann. Weil ich zwei der drei Filme noch nicht kenne, mache ich das einfach. Alles andere wäre albern. Zum Abschied reicht er mir nochmal die Flosse. Kaum ist er um die Ecke, kippe ich mir eine riesige Menge Desinfektionsmittel über die Hände und eile anschließend sofort ins Bad, um meine Hände unfassbar ausgiebig zu waschen. Gerne würde ich meine Hose wechseln, doch an eine Ersatzhose habe ich leider nicht gedacht. Ich muss mir hier ein Handtuch hinlegen. Oder besser noch, ich reiche keinem Kunden mehr die Hand, sonst bin ich bald krank und tot. Oder beides. Für solche Kunden will ich eine Gefahrenzulage.
Am Nachmittag besucht mich eine Kundin, für die ich keine wirklich passende Bewerbung vorrätig habe. So muss ich zum ersten Mal mehr machen, als fertige Bewerbungen einfach nur minimal abzuändern. Und ich gebe mir echt Mühe für meine Verhältnisse. Sie scheint jedenfalls zufrieden mit dem Ergebnis zu sein. Nebenbei erfahre ich einen Teil ihrer nicht einfachen Lebensgeschichte. Als sie mir dann zum Abschied noch sagt, dass sie meinen Vorgänger irgendwie merkwürdig fand, bin ich für einen Moment zufrieden, vermute dann aber, dass sie das zu meinem Nachfolger auch sagen wird.


14. Juli 2011
Der Donnerstag startet deprimierend mit einem kleinen Gefühlsausbruch während eines Telefonats mit einer Mitarbeiterin vom Jobcenter. Ich sitze gerade mit einem Kunden hier und arbeite an seinen Bewerbungen, als Frau G. vom Jobcenter anruft. Sie hat eine Kundin, die sofort eine Bewerbung braucht. Es ist Donnerstag, ich kann erst am Montag wieder Termine anbieten. Frau G. findet das unmöglich, wo es doch darum geht, jemandem zu einem Job zu verhelfen. Ich sage ihr, dass ich ihr nicht helfen kann. Sie nölt weiter rum. Ich werde sauer und beschimpfe sie, dass sie mir nicht zu sagen hat, wie ich zu arbeiten habe. Wenn kein Termin frei ist, dann ist kein Termin frei. Sie labert weiter ihren hohlen Müll, dass es unmöglich ist, dass ich ihrer Kundin heute keine Bewerbung schreibe, weil sie ja heute eine große Chance auf eine Job hat. Ich kann so einen Schwachsinn nicht ertragen und werde immer lauter und sage ihr, dass sie ihren Job anständig machen soll und mir nix vorzuschreiben hat. Sie schafft es sogar, mich weiter zu provozieren, weil sie ständig sagt, dass ich lauter werden soll. Und so brülle ich immer lauter auf sie ein. Als sie ein weiteres Mal sagt, dass ich lauter werden soll, brülle ich sie ein letztes Mal an und lege auf. Ich glaube, in mir schlummert ein hohes Aggressionspotential. Ich hasse es, wenn ich emotional werde und die Beherrschung verliere. Und ich hasse Menschen wie Frau G. Besser fühle ich nach dem Gebrüll natürlich nicht. Mein Kunde hat logischerweise alles mit angehört. Und wie es sich für einen anständigen Kunden gehört, hat er Verständnis für mich. Verständnis ist auch nur ein Reflex. Vielleicht schenkt der Kunde mir auch deshalb später seinen Kugelschreiber. Als er sich verabschiedet, sagt er noch, dass er beim nächsten Mal ein Stück Kuchen mitbringen will. Irgendwie süß. Ihn nenne ich den Kuchenmann. Kaum ist der Kuchenmann weg, steht eine Art Notfallkunde vor der Tür. Er braucht dringend eine Bewerbung und hat sogar sein eigenes Papier mitgebracht. Mit Wasserzeichen. Während ich seine Bewerbung ausdrucke, schenkt er mir ein Pfefferminzbonbon. Und zum Abschied auch noch Papier mit Wasserzeichen. Verrückter Kerl.
Der letzte Kunde des Tages ist eine echte Herausforderung. Er ist arg sprachbehindert und ich kann ihn kaum verstehen. Sein hier gespeicherter Lebenslauf ist mit einigen Fehlern verziert, seine Bewerbung ein einziger Fehler. Lauter Rechtschreibfehler, furchtbare Grammatik. Ich frage mich, wie man jemandem so etwas mitgeben kann. Der Kunde erzählt viel, ich verstehe wenig. Aus mehreren Bewerbungen kopiere ich ihm eine akzeptable Bewerbung zusammen. Er hat vermutlich noch nie eine bessere Bewerbung gehabt. Zumindest nicht von hier. Dennoch bin ich weiterhin unzufrieden, weil ich glaube, dass mein Job mich deprimiert.


15. Juli 2011
Wenn jemand ins Büro geht, dann erwartet man nicht unbedingt, dass er an einer ABM teilnimmt. Okay, mittlerweile sagt man nicht mehr ABM, sondern „Arbeitsgelegenheit mit Entgeltvariante“, kurz AGH-E . Besser wird so eine Maßnahme dadurch nicht. Denn wenn es so wäre, dass man Dinge nur umbenennen muss, damit sie akzeptiert werden, einen besseren Ruf bekommen und/oder wirklich besser sind, dann würden vermutlich viele Eltern ihre verhaltensgestörten, nein verhaltensauffälligen, Kinder einfach umbenennen. So würde aus dem Flegel Rouven, der schlecht in der Schule ist und ziemlich bescheiden aussieht, der Vorzeigeschüler Nils, der einen gepflegten Seitenscheitel trägt und später mal den elterlichen Betrieb übernehmen wird. Leider geht das nicht. Deshalb bleibt Rouven immer ein Arschloch und eine ABM immer eine ABM. Und deshalb kommt nicht mehr viel unterhalb so einer Maßnahme. Maximal Obdachlosigkeit. Oder Alkoholismus. Oder eine Kombination aus beidem. Ein Karrieresprungbrett ist so eine Maßnahme jedenfalls nicht. Maximal eine Zwischenstation für Gescheiterte. Ich habe viele Leute hier, die früher regelmäßig von ABM zu ABM gereicht wurden. Die meisten von denen sind längst Dauerarbeitslose, die nicht mehr benötigt werden. Diesen Weg bin ich auch gerade dabei zu gehen. In spätestens einem Jahr erreiche ich die nächste Stufe. Dann heißt es irgendwann Abschied nehmen. Abschied von meinem Benz, Abschied von teuren Parfums, Abschied vom Abschied. Vorher werde ich mir von meinem „üppigen Gehalt“ noch sehr viel Luxus gönnen. Jetzt, wo ich die Dinge von dieser Seite betrachte, klingt es immer noch scheiße. Schade. Während ich mich meiner Depression hingebe, kommt der Kuchenmann wieder. Ich fürchte schon, dass er seinen Kugelschreiber zurück will, doch er möchte nur eine weitere Bewerbung. Lässt sich einrichten. Danach sitzt er noch fast eine Stunde bei mir und wir reden darüber, wie beschissen das Leben doch ist. Nächste Woche will er nochmal vorbeikommen, um mit mir Kuchen zu essen. Hoffentlich bringt er mir keinen Bienenstich mit. Ich hasse Bienenstich.


Nacktputzer
Nachdem ich geduscht bin, föhne ich meine Haare, creme mich ein und stelle fest, dass zu viele Haare auf dem Boden liegen. Ich hole den Staubsauger, um die Haare wegzusaugen, weil ich es einfach nicht mag, wenn alles voller Haare ist. Da ich schon dabei bin, fülle ich anschließend einen Eimer, um zu wischen. Wischen bedeutet, runter auf die Knie und den Boden mit einem geeigneten Bodentuch reinigen. Nach dem Bad ist der Flur dran. Als ich am großen Spiegel vorbei komme, stelle ich fest, dass ich nackt bin. Es stört mich nicht weiter und so wische ich den Boden im Flur und anschließend die Küche. Dabei kommt mir eine Idee. Wenn es mir nichts ausmacht, nackt den Boden zu wischen, dann könnte ich doch auch als Nacktputzer arbeiten. Die verdienen sicherlich nicht schlecht und ich könnte mir so ein paar Euro dazu verdienen. Jetzt muss ich nur noch herausfinden, ob Nacktputzer grundsätzlich attraktiv sein müssen und ob schöne und durchtrainierte Körper Grundvoraussetzung für den Beruf sind, oder ob das weniger wichtig ist. Und wer weiß, vielleicht beginnt schon bald meine große Karriere als Nacktputzer.


18. Juli 2011
Der erste Gast der neuen Woche fährt mit einem Polo Stufenheck vor. Ein Polo mit Stufenheck lässt Schlimmes befürchten. Schnell stellt sich heraus, dass der Mann perfekt zu seinem merkwürdigen Auto passt. Er ist 50 Jahre, hat furchtbaren Mundgeruch und eine Mappe, in der er fein säuberlich Zeitungsausschnitte abgelegt hat. Berichte über Zeitarbeitsfirmen und Urteile gegen Zeitarbeitsfirmen. Er erzählt mir, dass er seit Jahren an einem Gourmetführer, der Deutschland revolutionieren wird, schreibt. Für seine Bewerbung hat er genaue Vorstellungen. Folgende Sätze hat er kreiert, weil sie so gut zu ihm passen: Ich habe einen erkennbaren Sinn für Ordnung und Sauberkeit. Fleiß, Geschick und Einsatzfreude kennzeichnen meine Einstellung zur Arbeit. – Bereits im Vorfeld meiner beruflichen Ausbildung entwickelte sich eine ausgeprägte Vorliebe zum Kochen, die stets vom tiefen Interesse und nie versiegender Neugier begleitet ist und sich längst zu einer Freizeit füllenden Beschäftigung heraus bildete. Er bewirbt sich als Küchenhelfer und ist sehr zufrieden, als ich ihm die Bewerbungen erstellt habe. Während ich seinen Lebenslauf ausdrucke, sortiert er die Anzeigen, die er mir gezeigt hat, wieder in seine Mappe ein. Danach verlässt er mein Büro, steigt in seinen Polo mit Stufenheck und fährt seiner Zukunft als Autor eines bahnbrechenden Gourmetführers entgegen. Gute Reise.
Als nächstes besucht mich der Kuchenmann. Er scheint sich hier sehr wohl zu fühlen. Ich schreibe ihm eine Bewerbung und er überreicht mir einen Marmorkuchen. Den darf ich zwar laut Arbeitsvertrag nicht annehmen, aber ablehnen kann ich so einen Kuchen auf keinen Fall. Wir plaudern noch ein wenig, bevor eine Frau zu ihrem Termin erscheint und er sich verabschieden muss. Die Frau ist köstlich. Sie ist 34 Jahre und riecht wie eine Mischung aus Abfall, Urin und Verwesung. Ihr Geruch passt zu ihrer Optik. Sie möchte, dass ich ihr Bewerbungen schreibe, hat aber keine Adressen mit. Die soll ich bei der Jobbörse finden. Das ist Zeitverschwendung, weil sie in dem Zustand nie im Leben jemand einstellen wird. Das sag ich ihr aber nicht, weil man so etwas nämlich nicht macht und ich meinen Job fast schon professionell erledige. Nachdem sie das Büro verlassen hat, lüfte ich sofort durch. Das war der widerlichste Auftritt bisher.


19. Juli 2011
Mich beschäftigt seit Tagen die Frage, ob ich die Kunden weiter Kunden nennen soll. Doch mir fallen keine wirklichen Alternativen ein. Soll ich sie Arbeitslose nennen? Verlorene? Gescheiterte? Nutzlose? Hoffnungslose? Müllköpfe? Ich schätze, ich werde sie weiter Kunden nennen. Der 11.00 Uhr Kunde ist 26 Jahre, macht einen 1,25 Euro Job und riecht übel. Ich bin nicht in der Lage den Geruch zu beschreiben, weiß aber, dass er sehr unangenehm ist. Vielleicht sollte ich ein Deo oder besser noch eine Dose Febreze hier deponieren. Damit kann ich dann versuchen, den üblen Geruch mancher Kunden zu neutralisieren, indem ich sie direkt ansprühe.
Ohne Termin erscheint wenig später ein Vietnamese. Er muss unbedingt heute eine Bewerbung schreiben und ist bereit so lange zu warten, bis ich Zeit für ihn habe. Als ich endlich Zeit habe, schreibe ich ihm die Bewerbung und er fängt an zu erzählen. Von seiner Flucht mit der Cap Anamur, seinem Deutschkurs, seinem Arbeitsleben in Deutschland, dem Untergang Deutschlands, seit der Öffnung der Mauer und seiner verzweifelten Suche nach einem Job. Zwischendurch macht er den Eindruck, als würden ihm die Tränen kommen. Er erzählt von einem Vorstellungsgespräch, bei dem er drei Stunden warten musste, nur um dann zu hören, dass man ihn nicht will. Er sagt, dass er so nicht behandelt werden will, dass er kein Tier ist, sondern ein Mensch. Wieder scheint es so, als kämen ihm gleich die Tränen. Ich will nicht, dass hier jemand weint. Das würde ich nicht verkraften, ich bin nämlich auch nur ein Mensch. Der Mann tut mir leid. Ich tue mir auch Leid. Kaum ist er weg, sitzt eine 36-jährige Frau in meinem Büro. Ihr Gesichtsausdruck spiegelt Hoffnungslosigkeit, Resignation und Freudlosigkeit wider. Mir gefällt das nicht. Vermutlich, weil ich oft genau denselben Gesichtsausdruck habe. Willkommen im Reich der Verlorenen.


20. Juli 2011
Der erste Kunde des Tages ist 55 Jahre und muss, wie viele Arbeitslose, jeden Monat drei Bewerbungen schreiben. Er fragt, ob ich die drei Bewerbungen für nächsten Monat gleich mit erstellen kann, so dass er nur alle zwei Monate herkommen muss. Ich bin einverstanden, der Kunde zufrieden. Er erzählt von jungen Kundinnen mit tiefem Ausschnitt, die früher wohl regelmäßig hier waren, um sich Bewerbungen schreiben zu lassen. Ich sage ihm, dass ich bisher keine von denen zu Gast hatte. Er sagt, dass er einmal im Monat ins Café del Sol geht. Zum Singletreffen. Dreiundzwanzig Frauen, drei Männer. Ich vermute, dass da nur Trümmerlotten hingehen, behalte es aber für mich. Die nächste Kundin ist 29 Jahre und hat eine tolle Figur. Aber eine gute Figur alleine reicht oftmals nicht. Ich kopiere ihr eine Bewerbung zusammen und frage sie, was sie davon hält. Sie findet sie gut. Weil ich einen Rechtschreibfehler entdecke, korrigiere ich die Bewerbung und drucke sie nochmal aus. Sie liest sie sich durch und sagt „Die ist auch gut.“ Ich sage nichts dazu, freue mich aber, dass ihr beide Bewerbungen gefallen. Erwähnte ich schon, dass eine gute Figur oftmals nicht ausreicht?
Gegen Mittag kommt ein weiterer Vietnamese vorbei. Er hat Post vom Jobcenter bekommen. Er hat sich zu spät bei einer Firma beworben und es werden ihm Abzüge angedroht. Ich schreibe ihm eine Stellungnahme, warum er die Bewerbung erst so spät geschrieben hat. Er ist unfassbar dankbar, reicht mir beide Hände und verbeugt sich sogar irgendwie vor mir. Ich komme mir fast wie ein Don vor. „Irgendwann, möglicherweise aber auch nie, werde ich ihn bitten, mir eine kleine Gefälligkeit zu erweisen.“
Der Rest des Tages ist sehr ruhig. Kaum Anrufe, kaum Kunden. Ich lese Zeitung, wandere auf und ab, gucke aus dem Fenster, starre die Wand an und langweile mich. Alles ist fast so wie zu Hause. Nur ohne Musik. Je später es wird, desto dunkler und kälter wird es. Ich schließe die Fenster und schalte das Licht ein. Kurz vor dem Arbeitsende fängt es an zu regnen. Heute stimmt einfach alles.


21. Juli 2011
Die Mitarbeiter vom Jobcenter schicken regelmäßig Leute, denen ich neue Bewerbungsunterlagen erstellen soll. Je nachdem, von wem die Kunden geschickt werden, sehen die Bewerbungen sehr unterschiedlich aus. Die Dinge, die an den Bewerbungen laut Mitarbeitern vom Jobcenter angeblich okay sind, sind meist schon seit Jahren nicht mehr okay. Man kann also durchaus sagen, dass viele Mitarbeiter beim Jobcenter keine Ahnung davon haben, wie eine Bewerbung auf keinen Fall aussehen soll. Dilettanten. Nichts als Dilettanten. Bei einigen dieser Mitarbeiter müssen sich wirklich schreckliche Dinge im Kopf abspielen. Zur Realität scheinen sie jedenfalls nur sporadisch Kontakt zu haben. Je länger ich hier sitze und Kontakt zu Menschen habe, desto blöder und unsinniger finde ich Menschen. Das Aussterben der Rasse Mensch ist längst überfällig. Es ist der 21. Juli 2011. Ich sitze im Büro und friere. Ohne Klimakatastrophe und Erderwärmung wäre das kaum möglich. Der Tag neigt sich dem Ende entgegen. Weiter nach vorne bringt mich das nicht.


Ninas Rückkehr
Vor einiger Zeit meldete sich Nina wieder bei mir. Sie ist zwischenzeitlich mit ihrem neuen Freund nach Lünen gezogen und fragte, ob wir mal zusammen etwas trinken gehen. Seit unserem letzten Treffen sind Monate vergangen, als wir uns heute in Lünen treffen. Ich erkenne sie zwar sofort, bin aber etwas irritiert. War sie schon immer so voluminös oder hat sie zugenommen? Wieso kann ich mich nicht daran erinnern? Soll ich sie wirklich danach fragen? Besser nicht. Ist ja auch nicht wirklich wichtig. Immer noch hat sie was, was mir so gut gefällt, dass ich gerne mit ihr Sex hätte, aber da wir sexuell nicht zusammenpassen ist das Quatsch. Wir gehen ein Eis essen und ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie sie nackt aussieht. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, dass wir zusammen im Bett waren. Ich erinnere mich zwar an den Sex, aber trotzdem kommt mir das alles merkwürdig vor. Von ihrem berüchtigten Mundgeruch merke ich nichts. Möglicherweise sitzen wir zu weit auseinander. Außerdem sitzen wir draußen. Da verflüchtigt sich der Mundgeruch schon mal. Sie hat unglaublich große Brüste. Und diese Brüste gucken immer irgendwie aus ihrem Oberteil heraus. So große Brüste finde ich unnötig, trotzdem gucke ich ständig hin. Aber was soll ich machen? Die Brüste starren mich ja auch ständig an. Anderthalb Stunden unterhalten wir uns. Sie arbeitet mittlerweile als Lehrerin an einer Hauptschule und erzählt, dass sie eine offene Beziehung führt. Früher wäre ich bei so einer Aussage hellhörig geworden und hätte darüber nachgedacht, ob mich das irgendwie weiter bringt. Heute ist es nichts weiter als eine Information, die ich zur Kenntnis nehme. Als wir wenig später das Treffen beenden, darf sie bezahlen, weil ich kein Geld dabei habe. Das war zwar nicht geplant, erscheint mir aber eine gute Masche für zukünftige Treffen. Mal sehen, ob ich darauf zurückgreife. Als wir uns verabschieden, sagt sie, dass wir das demnächst wiederholen können, wenn ich Lust habe. Das habe ich zwar nicht erwartet, bin aber einverstanden. Die Wahrscheinlichkeit für ein weiteres Treffen liegt somit bei 36,57%.


25. Juli 2011
In meinen beiden Büros gibt es vier Arbeitsplätze. Der Arbeitsplatz im kleinen Büro hat einen Scanner, der nur selten benötigt wird. In dem großen Büro stehen drei PCs. Einen davon nutze ich nur als Heizung. Den in der hinteren Ecke benötige ich, wenn ich Mails empfangen und versenden will. Das geht nur über den einen Platz. Der PC neben der Tür ist mein Hauptsitz. Hier empfange ich die Kunden und hier verbringe ich den größten Teil des Tages. Die Computer sind nicht miteinander verbunden. So muss ich, wenn ich etwas scanne oder etwas per Mail verschicken will, immer einen USB-Stick benutzen, um die Daten von einem PC zum anderen zu bekommen. Das ist zwar etwas unmodern, aber so bleibe ich wenigstens in Bewegung. Ich vermute, dass das auch der Grund ist, warum die PCs nicht miteinander verbunden sind. Und so ist diese zunächst fragwürdige Sache am Ende doch sinnvoll und nachvollziehbar. Denn wer alles von einem PC aus erledigen kann, der bewegt sich nicht, wird faul und träge und stirbt irgendwann an Bewegungsmangel. So etwas kann kein Arbeitgeber wollen.
Die Zeit ohne Kunden nutze ich, um einen Blick in meine Schreibtischschublade zu werfen. Dort habe ich schon viele wichtige Sachen abgelegt. Kopfschmerztabletten und Diazepam gegen Schmerzen und Verspannungen. Handcreme, um meine Hände schön geschmeidig zu halten. AXE Alaska, um das Raumklima zu verbessern und mich bei Bedarf in einen gut riechenden Menschen zu verwandeln. Einen Nivea Fresh Active Deoroller für den Fall, dass ich das Bedürfnis verspüre, mich damit zu behandeln. Ein paar Kekse für den kleinen Hunger zwischendurch oder den Fall, dass mal nette Gäste kommen. Eine Zeitschrift liegt ebenfalls in der Schublade. Zur Zeit das PC Magazin. Ein Buch werde ich mir demnächst auch noch mitbringen. Für alle Fälle. Ich nenne die Schublade ab heute Überlebensschublade.
Es ist etwa 08.37 Uhr, als ich einen unangenehmen Geruch bemerke. Irgendwas verbrennt hier. Der Geruch kommt eindeutig vom PC. Der PC ist unfassbar warm, ersetzt die Heizung und ich kann tatsächlich meine Jacke ausziehen. Unter dem Tisch ist es besonders warm. Weil ich davon ausgehe, dass es nicht gut für den PC ist, wenn er so warm ist, schaue ich mal nach, ob ich ihm irgendwie helfen kann. Dazu schraube ich die Seitenteile ab und sorge dafür, dass die Lüftung wieder funktioniert. Ohne Seitenteile und mit funktionierender Lüftung geht es dem PC bald viel besser. Trotzdem fürchte ich, dass er noch während meiner Vertragslaufzeit kaputt gehen wird. Und dann habe ich den Salat. Nach einer Weile ist der PC soweit abgekühlt, dass ich die Seitenteile wieder anbaue. Schließlich muss alles seine Ordnung haben.
Um 10.31 Uhr habe ich das PC Magazin durch, eiskalte Füße und die Jacke schon lange wieder an. Ich hätte mir ein Buch, warme Socken, eine Mütze und Handschuhe mitbringen sollen. Die Klimakatastrophe macht mich echt fertig. Hoffentlich hatten die Maya recht und die Welt geht wirklich am 21. Dezember 2012 unter. Länger kann das wirklich niemand aushalten. Der blöde PC wärmt nicht mehr. Ich hätte den Lüfter nicht in Gang bringen sollen und creme eine Hände ein, damit ich beschäftigt bin.


26. Juli 2011
Ich habe mich entschieden, dass ich die Menschen, die mich aufsuchen, von nun an nicht mehr Kunden nenne. Menschen werde ich sie nennen. Oder Besucher. Oder Mann bzw. Frau, je nach Geschlecht halt.
Es geht das Gerücht um, dass ich demnächst einen 1,25€ Jobber als Mitarbeiter bekomme. Ich habe keine Verwendung dafür. Was soll der denn hier machen, außer mich zu nerven? Natürlich ist etwas Gesellschaft und Unterhaltung nicht verkehrt, aber die setzen mir bestimmt einen echten Vollpfosten hier hin. Der geht mir dann auf die Nerven und treibt mich in den Wahnsinn. Das möchte ich nicht. Eine attraktive und willige Frau würde ich eventuell akzeptieren, alles andere erscheint mir unnütz. Ich hoffe, dass es nur ein Gerücht ist.


27. Juli 2011
Regelmäßig bringen die Menschen mir Jobangebote mit, die sie vom Jobcenter bekommen haben. Die meisten Jobangebote kenne ich, weil ich sie schon mehrfach in der Hand hielt. Der einzige Unterschied ist der Bewerber/die Bewerberin. Es entsteht der Eindruck, als gebe es nur noch Zeitarbeitsfirmen und Personalvermittler. Ich könnte eine Standardbewerbung für jede dieser Firmen erstellen und müsste dann nur noch den Namen des Bewerbers/der Bewerberin austauschen. Ich glaube, das ist eine gute Idee. Die beim Jobcenter arbeiten sicher ähnlich. Beschissene Welt.
Den ersten Besucher des Tages beachte ich nicht wirklich. Er kommt herein, setzt sich, gibt mir einen Brief vom Jobcenter mit einem Jobangebot. Ein mir bekanntes Angebot. Ich beginne, seine Bewerbungsunterlagen zu erstellen. Schweigend. Er findet mein Schweigen wohl etwas unangenehm, weshalb er eine Unterhaltung beginnt. Freundlich wie ich bin, nehme ich an der Unterhaltung teil. Jetzt ist er entspannter und fragt, ob ich ihm noch drei Initiativbewerbungen schreiben kann. Natürlich kann ich das, schließlich werde ich dafür bezahlt, Menschen zu helfen. Ich bin quasi der Engel der Arbeitslosen. Kaum ist er weg, steht eine Frau in meinem Büro. Ich soll ihr Bewerbungen schreiben, aber sie weiß nicht wirklich, wo sie sich bewerben will. Überhaupt ist sie sehr demotiviert und hoffnungslos. Das bin ich auch ständig, weshalb ich ihr sage, dass sie, statt wahllos Bewerbungen zu schreiben, doch besser in irgendwelchen Geschäften direkt nachfragt, ob es dort Arbeit für sie gibt. Sie will es probieren. Ich bin gespannt.


28. Juli 2011
Der letzte Besucher des Tages ist die Krönung der schöpferischen Gedankenlosigkeit. Wenig Haare auf dem Haupt, diese aber schön verklebt. Passend dazu sein Geruch. Alter Schweiß, gewürzt mit einem Hauch Verwesung. Er ist zehn Jahre jünger als ich. Das zu glauben fällt mir schwer. Sein herzlicher Geruch umschmeichelt meine Nase und verteilt sich im ganzen Raum. Ich bin dennoch erstaunlich gelassen. Als er den Raum verlässt, in seinen roten Golf steigt und davonfährt, ist sein Duft noch sehr präsent. Es riecht, als wäre er noch gar nicht gegangen. Sein bezaubernder Duft kann sicher mehrere Stunden überleben. Allerdings bezweifle ich, dass ich es überleben kann. Da die Fenster längst geöffnet sind, greife ich in meine Schublade, nehme das Deo und sprühe einmal kräftig in den Raum. Axe Alaska besiegt den Duft des ungepflegten Mannes. Mein Überleben ist gesichert. Vorerst.


29. Juli 2011
Der Freitag beginnt mit einem optischen Höhepunkt. Ich muss eine Bewerbung für eine 26-jährige Frau mit großen Brüsten schreiben. Ihre Figur ist durchaus gelungen. Sie ist nicht wirklich schlank, aber alles scheint fest zu sein. Sie trägt ein rosafarbenes, eng anliegendes Oberteil mit einem Ausschnitt, der nicht viel Einblick gewährt, aber doch genug, um mich abzulenken. Und so rede ich gelegentlich zu ihren Brüsten, erwarte aber nicht, dass diese mir antworten. Ich glaube aber auch nicht, dass es die Brüste oder die Frau stört. Mich stört es jedenfalls nicht. Während ich ihre Bewerbung erstelle und immer wieder ihren jungen Körper betrachte, kommt ein Mann mit Migrationshintergrund zur Tür herein. Ich soll ihm einen Antrag ausfüllen und sage ihm, dass ich jetzt keine Zeit habe. Einen Termin will er nicht, weil er den Antrag schon nächsten Montag abgeben muss. Ich sage ihm, dass ich viel zu tun habe und er heute länger warten muss. Mindestens dreißig Minuten. Das gefällt ihm nicht. „Kannst Du (Er duzt mich schon seit er letzte Woche zum ersten Mal hier war) das nicht jetzt ausfüllen?“ Ich sage nein und deute mit der linken Hand Richtung Tür. Seine Gesprächszeit ist noch nicht gekommen, ich habe zu tun. Als er das Büro verlassen hat, wende ich mich wieder den Brüsten zu. Ich glaube, das könnte ich den ganzen Tag tun. Kaum haben die Brüste mein Büro verlassen, steht der Mann mit Migrationshintergrund wieder in meinem Büro und legt mir zwei Anträge zur Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung vor. Die Anträge sind für seine Söhne, die Ende der 90er hier in Deutschland geboren wurden. Mit telefonischer Hilfe einer Frau des Migrationsdienstes fülle ich die Anträge aus. Der Mann erzählt, dass Deutschland komisch ist und versteht nicht, warum seine Söhne kein Daueraufenthaltsrecht haben, obwohl sie hier geboren sind. Dann erzählt er etwas von einer Frau Metsche, oder Meksche, der er etwas schreiben will. Ich weiß nicht, wen er meint und was er schreiben will. Sein deutsch ist einfach zu schlecht. Es dauert eine ganze Weile bis ich endlich verstehe, dass er unserer Kanzlerin Frau Merkel schreiben will, wie Scheiße er alles findet. Ich sage ihm, dass Frau Merkel das eh nicht lesen wird und er sich das sparen kann. Er meckert noch eine Weile, dann verabschiedet er sich für heute.
Zum Abschluss des Tages kommt eine echte Quasseltante zu mir. 45 Jahre, Sonnenbankgebräunt, gut parfümiert und mit einem Zungenpiercing ausgestattet. Zungenpiercings finde ich irgendwie faszinierend. Die Quasseltante eher weniger. Fast neunzig Minuten redet sie auf mich ein. Ich erfahre Dinge, die ich nie erfahren wollte. Warum haben manche Menschen nur das Bedürfnis all diese Dinge zu erzählen? Und warum ausgerechnet mir?
Mein erstes Gehalt habe ich auch bekommen. 842,87€. In den nächsten Tagen, Wochen und Monaten kann ich endlich angemessen leben und mir Dinge kaufen, die ich mir schon immer gewünscht habe. Und die 842,87€ sind ja noch nicht alles. Klug wie ich bin, habe ich nämlich eine Gehaltsaufstockung, den Fachbegriff habe ich vergessen, beim Jobcenter beantragt. Und diese Aufstockung wird sicher enorm sein. Fünfhundert Euro mehr ist mir meine Arbeitszeit schon wert. Bin gespannt, wie die vom Jobcenter das sehen. Dann kann ich mir endlich alle meine Träume erfüllen und in den Urlaub fahren. Ich kann meinen Benz durchchecken lassen, mich kleiden wie ein kleiner Prinz und jedes Wochenende ausgehen. Okay, das war jetzt vielleicht ein wenig übertrieben, aber anders verkrafte ich das einfach nicht.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert