Berufliche Zukunft
Es gibt Tage, an denen ist mir alles ziemlich egal, da bin ich mir besonders egal. Tage wie diese sind gefährlich, weil da leicht Dinge passieren, die mich am Ende noch mehr deprimieren. So ein Tag ist heute. Gefährlich wird es dadurch, dass ich zum Jobcenter muss. Leicht besteht die Gefahr, dass ich dann zu allem, was mir vorgeschlagen wird, ja sage. Schließlich bin ich mir egal.
Es trifft sich gut, dass das erste Angebot meiner Betreuerin genau zu dem Tag passt. Eine dreimonatige Ausbildung im Call Center. Das nenne ich einen Einstieg. Resigniert höre ich mir das Angebot an und sehe mich schon im Call Center sitzen und den ganzen Tag mit Leuten reden, die mich nicht interessieren. Bevor ich mich meinem Schicksal füge, fragt meine Betreuerin, was ich davon halte. Wieso darf ich mich jetzt dazu äußern? Ich dachte, es ist eine beschlossene Sache, dass ich dort meine Zukunft verbringe. Nun sollte ich vielleicht reagieren und antworten. Völlig verwirrt sage ich, dass mich das nicht wirklich interessiert. Zu meinem Erstaunen findet sie das nicht schlimm und bietet mir stattdessen an, mich bei einem Personaldienstleister zu bewerben, der dringend Leute fürs Call Center sucht. Später, wenn ich gut bin, bekomme ich dort 9,06€ Stundenlohn. Okay, sage ich, dann mache ich das. Sollte es nicht klappen, gibt es noch eine weitere Möglichkeit. Eine Fortbildung im kaufmännischen Bereich. Dauert fünf Monate und beinhaltet sogar ein Praktikum. Ich will keine Fortbildungen mehr. Das bringt doch alles nix. Warum lässt man mich nicht weiter ehrenamtlich arbeiten und in Ruhe? Ich tue doch keinem etwas. So eine Fortbildung kostet nur Geld und bringt am Ende meist nichts. Zumindest nicht bei mir. Bei anderen vielleicht schon. Ich bin dafür ungeeignet. Geldverschwendung. Das möchte ich nicht. Wie gelähmt sitze ich da, versuche zu erklären, dass mich Fortbildungen bisher auch nicht weiter gebracht haben und bekomme einen Flyer. Ich darf mir das überlegen. Gerne kann ich das auch bei einem anderen Bildungszentrum machen. Als ob ich dazu in der Lage wäre. Mich interessiert das doch alles wenig bis gar nicht. Ich gehöre weder in eine Fortbildung noch auf den Arbeitsmarkt. Für mich ist diese Arbeitswelt zu abstrus, um Teil davon zu sein. Ach, hätte ich doch nur Interesse an irgendwas. Könnte ich mich doch nur für irgendeine berufliche Tätigkeit begeistern. Doch ich weiß nur, was ich nicht will. So komme ich nicht weiter. Traditionell gibt es eine neue Eingliederungsvereinbarung. Nun bekommt man wieder 5€ für eine Bewerbung. Das mit den 2,50€ hat sich scheinbar nicht durchsetzen können. Total irre. Wir plaudern noch ein wenig und landen bei einer Lagertätigkeit. Ich sage, dass ich so etwas nicht tun kann, weil Sprunggelenk und Knie diese Belastung nicht aushalten. Meine Betreuerin ist überrascht und mir ist es peinlich. Aber ändern kann ich es auch nicht. Ich bekomme noch ein Jobangebot als Automobilkaufmann und höre von ihr, dass ich vielseitig ausgebildet bin. Ja, das mag sein, doch trotzdem habe ich von fast gar nichts eine Ahnung. Meine Betreuerin wirkt ratlos, ich bin es schon lange. Außerdem fällt mir plötzlich auf, dass meine Betreuerin schlechte Zähne hat. Farblich und auch von der Oberflächenbeschaffenheit wirken sie irgendwie ungesund. Mangelernährung ist mein erster Gedanke. Doch ich bin kein Arzt, was weiß ich denn schon davon? Und ihre Zähne tun auch nichts zur Sache. Gar nichts. Zum Abschluss fragt sie, ob ich noch Ideen habe oder ob sie irgendwas für mich tun kann. Da sie mich vermutlich nicht einschläfern lassen darf, sage ich, dass ich leider keine Ideen habe, sie nichts tun kann und verabschiede mich. Ich bin ein hoffnungsloser Fall und werde in diesem Leben beruflich wohl eher nicht mehr durchstarten. Aber auch das ist nichts, was ich nicht schon seit Jahren weiß.
Kaum zu Hause angekommen, bewerbe ich mich bei dem Personaldienstleistungsunternehmen und dem Autohaus, in der Hoffnung und Erwartung, dass niemand Interesse an mir hat. Anschließend bin ich lethargisch und sitze bis zum Mittag wie paralysiert auf meinem Schreibtischstuhl. Das wäre ein Job für mich.
Frau Hülle und die Tabstopps
Während meiner ehrenamtlichen Mitarbeit lerne ich mitunter interessante Leute und komische Vögel kennen. Manchmal auch eine kauzige Mischung aus beidem. Frau Hülle, die jetzt vor mir sitzt, könnte so eine Mischung sein. Sie ist 50 Jahre und sucht einen Job. Vielleicht sucht sie aber auch nicht. Wirklich schlau werde ich aus ihr nicht, denn sie ist weder qualifiziert, noch geeignet für einen normalen Job und möchte eigentlich auch keinen solchen. Körperlich ist sie wenig belastbar und ich fürchte, dass sie auch sonst wenig belastbar ist. Sie möchte etwas mit den Händen machen, am liebsten basteln. Ich sage ihr, dass Bastelarbeiten eher Hobby als Beruf sind. Sieht sie ähnlich, findet es aber blöd. Ich auch, aber die Welt ist nun einmal so. Und für Träumer oder Trampel, je nachdem, wie man uns nun bezeichnen mag, gibt es einfach keinen Platz auf dem Arbeitsmarkt.
Jeden Job, den ich ihr suche, findet sie ungeeignet bzw. sich nicht ausreichend qualifiziert oder grundsätzlich nicht dazu in der Lage. Aber sie muss jede Woche fünf Bewerbungen schreiben. Ein Witz, wenn man bedenkt, dass sie nix kann und Jobs in der Politik selten über eine Bewerbung vergeben werden. Zum dritten Mal sitzt sie heute vor mir und ist wie immer ganz durcheinander, fast schon verzweifelt, dann aber doch zu gefasst, um wirklich verzweifelt zu sein. Sehr mysteriös und auch bemitleidenswert. Mein Mitleid verfliegt aber sofort, als sie mir sagt, dass sie von den Bewerbungen, die ich ihr zuletzt geschrieben habe, kaum welche abgeschickt hat. Warum sie es nicht getan hat, kann ich nicht wirklich verstehen und sie nicht wirklich erklären. Vermutlich ist das Leben einfach zu verwirrend für sie. Verschiedene Schriftarten, Kurzschlüsse in ihrem Kopf, Tabstopps, die ihr angezeigt haben, dass im Lebenslauf die Abstände nicht stimmen und interne Probleme in ihren Schaltkreisen sind vermutlich Schuld an der ganzen Misere. Letzte Nacht, so sagt sie, hat sie ihren Lebenslauf überarbeitet. Die Tabstopps mussten für korrekte Verhältnisse sorgen. Und es fehlte was im Lebenslauf. Außerdem ist sie ganz durcheinander, weil wir geschrieben haben, dass sie bereit zur Schichtarbeit ist, in der Stellenanzeige aber nichts von Schichtarbeit steht. Vielleicht kann man das dennoch stehen lassen. Stundenlang arbeitete sie an dem Lebenslauf, aber es ist alles noch nicht richtig. Tabstopps zeigen an, dass es nicht gerade ist. Ich drucke ihren Lebenslauf aus, um ihr zu zeigen, dass alles gerade ist. Zu Hause, so sagt sie, an ihrem PC, da sieht man es deutlich, die Tabstopps beweisen, dass alles krumm ist. Die Tabstopps bereiten ihr große Sorgen. Ach, wären Tabstopps doch nur ihr einziges Problem, dann würden wir die Tabstopps einfach abschalten und alles wäre gut. Doch bei Frau Hülle ist gar nichts gut und es ist abzusehen, dass auch niemals alles gut sein wird. Ob sie Arbeit suchend oder Arbeitslos ist, ist auch von immenser Wichtigkeit. In dem einen Fall muss sie sich bewerben, im anderen Fall nicht. Ich weiß nicht, wovon sie spricht und schreibe ihr vier Bewerbungen. Kaum hält sie diese in den Händen, stört sie das Datum, weil das ja von heute ist. Ich frage sie, wo das Problem ist. Wenn sie die Bewerbungen heute nicht abschickt, dann stimmt das Datum ja nicht, antwortet sie. Ich frage sie, was dagegen spricht, die Bewerbungen heute abzuschicken. Das weiß sie nicht, findet die Möglichkeit es dennoch zu tun für einen kurzen Moment aber gut und nachvollziehbar. Doch ich weiß, dass sie schon bald vergessen haben wird, dass sie die Bewerbungen heute abschicken kann. Und es ist davon auszugehen, dass die Tabstopps und die eben erstellten Bewerbungen ihr weitere schlaflose Nächte bereiten werden. In ihrer Hülle möchte ich nicht stecken. Sie möchte in zwei Wochen wiederkommen, um weitere Bewerbungen zu schreiben. Vielleicht hat sie bis dahin das Problem mit den Tabstopps gelöst. Sollte sie allerdings bis dahin die Bewerbungen nicht abgeschickt haben, kann ich ihr keine weiteren Termine geben. Es gibt Leute, die ihre Bewerbungen wenigstens abschicken und nicht Nächtelang völlig verzweifelt an ihren Bewerbungsunterlagen sitzen, Tabstopps bewundern und die ganze Welt nicht verstehen. Nein, Frau Hülle ist nicht nur komischer Vogel, sie ist krank und braucht dringend eine Therapie. Nur wie kann ich ihr das schonend beibringen? Mit Tabstopps vielleicht? Denn Tabstopps lügen nie. Und schon gar nicht Frau Hülle an.
Krank machende Menschen
Die Arbeit im Penny Markt bei mir um die Ecke scheint zwei der Frauen, die dort arbeiten, nicht gut zu bekommen, denn diese beiden Damen sind fast immer erkältet, wenn ich dort einkaufe. Das wäre alles halb so schlimm für mich, wenn ich davon nichts wüsste und die beiden keinen Kundenkontakt hätten. Doch leider ist alles anders. Die beiden sitzen mit ihren Erkältungen an der Kasse, fassen Waren und Geld an und ich ekel mich regelrecht vor ihnen. Dummerweise vergesse ich immer, schon beim betreten des Ladens nachzusehen, ob eine kranke Mitarbeiterin an der Kasse sitzt. So könnte ich, wenn ich eine erkältete Frau dort sitzen sehe, sofort wieder gehen und woanders einkaufen. Damit wäre das Risiko, mir eine Infektion einzufangen, minimiert. Zumindest würde ich mich nicht offensichtlich einer unnötigen Gefahr aussetzen. Natürlich ist mir bekannt, dass eine Erkältung in der Regel harmlos verläuft, halte es aber für angemessen, bei einer Erkältung den Kontakt zu anderen Lebewesen zu vermeiden oder zu minimieren, um nicht für deren Infektionen verantwortlich zu sein. Bei einer Erkältung halte ich einen Krankenschein von mindestens sieben Tagen für mehr als angemessen und das Verhalten der Mitarbeiterinnen von Penny nicht nur für verantwortungslos und selbstzerstörerisch, sondern auch für verachtenswürdig und inakzeptabel. Und so versuche ich immer, wenn eine infizierte Person bei Penny an der Kasse sitzt, danach möglichst nichts anzufassen und mich unverzüglich mit einem Handdesinfektionsgel zu behandeln. Sobald ich zu Hause angekommen bin, wasche ich meine Hände, bevor ich die Waren auspacke. Nach jedem Teil, welches ich aus der Tüte nehme, wasche ich erneut meine Hände, entferne jede Verpackung, soweit möglich und wasche andere Waren, deren Verpackung ich nicht entfernen kann, unverzüglich ab. So hoffe ich, die Gefahr einer Infizierung auf ein Minimum zu reduzieren.
Ich verabscheue Menschen, die mit einer Erkältung so fahrlässig umgehen und andere in Gefahr bringen. So etwas gehört verboten oder wenigstens bestraft. So Leute gehören unter Arrest bzw. Quarantäne. Verfluchte Krankheitsüberträger.
H2-Atemtest
Seit Monaten bin ich schon nicht mehr wirklich gesellschaftstauglich. Furchtbare Darmgeräusche und Blähungen beeinträchtigen das gesellschaftliche Leben und ich kann deshalb nicht besonders lange beschwerdefrei in Gesellschaft durchs Leben stolzieren. Würde ich allerdings keine Probleme damit haben, vor Publikum den Winden freien Lauf zu lassen, dann wäre das Problem durchaus zu vernachlässigen, aber ich bin da irgendwie anders und möchte den Mitmenschen nicht auf diese Weise zu nahe treten. Und so muss herausgefunden werden, was für meine Probleme verantwortlich ist.
Eine vermutete Laktoseintoleranz möchte mein Hausarzt nicht so wirklich testen. Er sagt dazu nur, ich soll mal ganz viel Milch trinken und dann mal eine ganze Zeit alle Produkte, die Laktose enthalten, meiden. Klingt mir etwas zu kompliziert und langwierig. Da mein Hausarzt wenig hilfreich erscheint, frage ich, ob mein Heilpraktiker helfen kann. Er schlägt den H2-Atemtest vor, um eine mögliche Laktoseintoleranz festzustellen. Ich bin einverstanden.
Am Testtag trinke ich die Lösung und atme in Röhrchen. Anfangs spüre ich keinerlei Probleme, doch nach einer Stunde geht es los. Ohne dass ich ihn darum gebeten habe, feiert mein Darm eine Party. Es ist gut, dass ich ganz alleine bin. Wirklich gut. Sollte ich tatsächlich eine Laktoseintoleranz entwickelt haben? Ich werde wohl alt. Nein, ich bin es schon. Dabei ist so eine Intoleranz gar keine Alterskrankheit. Aber wieso habe ich sie dann? Habe ich sie denn? Vielleicht sollte ich die Laborergebnisse abwarten, bevor ich eine Eigendiagnose stelle. Bis es soweit ist, furze ich mich fröhlich durch die Gegend und beschäftige mich erst zu gegebenem Zeitpunkt wieder mit meiner Problematik. Alles andere wäre albern und würde auch keinem helfen.
Erstes Vorstellungsgespräch 2014
Es gibt Jobs, die mich nicht interessieren und es gibt Jobs, die mich noch weniger interessieren. Mein heutiges Vorstellungsgespräch führt mich zu einem Job, der mich noch weniger interessiert. Warum er mich noch weniger interessiert, lässt sich leicht erklären. Für eine Zeitarbeitsfirma, in diesem konkreten Fall die Gi Group, als Call Center Mitarbeiter zu arbeiten, ist einfach nichts, was ich für erstrebenswert halte. Und ich hätte mich auch niemals für einen solchen Job beworben, wenn meine Kooperationsbereitschaft dem Jobcenter gegenüber nicht so groß wäre. Bevor das Gespräch beginnt, fülle ich den üblichen Personalbogen aus. Mein Wunschgehalt beträgt heute 1.600 Euro brutto. Dabei weiß ich, dass es da gar nicht so viel zu verdienen gibt. Auf dem Tisch steht eine Art Flyer. Mitarbeiter werben Mitarbeiter. Dafür bekommen sie 30 Euro. Sofort überlege ich, wen ich, wenn ich hier arbeite, anwerben kann. Mir fällt niemand ein. Ich kenne einfach keine interessierten Arbeitslosen. Es scheint tatsächlich so zu sein, dass es zu wenige Menschen gibt, die einen Job suchen. Dafür gibt es Unternehmen, die ihren Mitarbeitern Prämien bezahlen, wenn sie Mitarbeiter anwerben. Ich hatte es für einen politischen Witz gehalten, aber es scheint zu stimmen. Fachkräftemangel selbst bei Zeitarbeitsfirmen. Vollbeschäftigung möglich. Wäre ich heute nicht hier, wäre ich noch immer skeptisch. Mein Besuch hat sich schon jetzt gelohnt. Auf jeden Fall.
Nach einer Weile werde ich von einer blonden Frau abgeholt. Sie gibt mir die Hand und stellt sich als Frau Stoffel vor. Sie bittet mich, in einem Zimmer Platz zu nehmen und folgt wenig später. Als sie den Raum betritt begrüßt sie mich erneut. Vermutlich ist sie vom Stress des Arbeitslebens verwirrt. Zunächst möchte sie, dass ich etwas von mir erzähle. So etwas hasse ich, weshalb ich sie frage, was sie hören will. Meine beruflichen Erfahrungen. Sehr gut, das wird ein kurzes Gespräch. Ich erzähle von meiner ehrenamtlichen Tätigkeit. Dann möchte sie wissen, warum ich nicht als Automobilkaufmann arbeite oder arbeiten will. Ich sage ihr, dass mir die Menschen auf den Keks gehen und ich den Beruf deshalb nicht ausüben will. Menschen nerven. Ich hoffe, dass sie meine Antwort abschreckt und sie deshalb davon Abstand nimmt, mich einstellen zu wollen. Scheint nicht zu klappen. Stattdessen stellt sie irgendwelche anderen bedeutungslosen Fragen. Ich betrachte sie. Mindestens zehn Jahre jünger als ich, nettes Gesicht, schöne Augen, freundliche Erscheinung. Große Hände. Aber nicht so sexy große Hände, sondern eher wie ein Handwerker. Kann ich nichts mit anfangen. Ich schaue weiter. Sie trägt einen Ausschnitt, der einen Blick auf ihre Brüste zulässt. Ich mag Brüste und schaue gerne in Ausschnitte. Von ihrem Ausschnitt kann ich meinen Blick zunächst nicht abwenden und es entsteht vermutlich der Eindruck als würde ich mit ihren Brüsten reden. Die Brüste sind sehr groß. Ich mag derart große Brüste eher weniger. Da kommt so gar keine freudige Erregung auf und ich frage mich, wie solche Brüste zu dem Gesicht passen, stelle dann fest, dass die Frage unsinnig ist und ziehe sie zurück. Der Blick wandert zu ihrem Bauch, der besonders ausgeprägt ist. Er passt prima zu ihren Brüsten, so wie er sich nach außen wölbt. Die Frau hat echte Kurven und echte Männer mögen das ja bekanntlich. Zumindest habe ich das irgendwo gehört. Während ich die Kurven betrachte, erfahre ich, dass ich 8,50€ Stundenlohn bekomme, dieser aber nach drei Monaten auf 9,07€ steigt. Damit komme ich auf 1451,20 Euro Brutto. Fast 1600, wie die Frau, die zu den Kurven gehört, mitteilt. Ja, nur 148,80 Euro weniger. Ein zu vernachlässigender Wert. Das macht dann 1074,74 Euro Netto im Monat. So viel habe ich schon lange nicht mehr verdient, was sicher damit zusammenhängen kann, dass ich noch nie wirklich gearbeitet habe. Am Dienstag findet ein Test statt. Ich weise die kurvige Frau Stoffel darauf hin, dass ich nächste Woche leider keine Zeit habe. Findet sie schade, aber sie lädt mich dann einfach zum nächsten Test ein. Und weil es gerade so gut läuft, sagt sie, dass sie auch noch einen Call Center Mitarbeiter für Bochum sucht. Ich frage, ob man da gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln hinkommt, weil ich ja kein Auto habe, was ich so auch in dem Personalbogen angekreuzt habe. Sie will sich informieren. In Bochum arbeiten schon einige Leute aus Lünen. Eine Information, die für mich so viel Wert hat wie eine tote Taube auf einem Dach. Fahrgeld zahlen sie übrigens nicht. Alles andere hätte mich auch sehr gewundert. Es wirkt nicht so, als würde ich einfach so aus dieser Nummer rauskommen. Wenn die mich wirklich zu einem Test einlädt, dann bin ich, wenn kein Wunder passiert oder ich mich besonders blöd anstelle, schon bald kein Arbeitsloser mehr. Die Arbeitszeiten, die täglich, auch am Samstag, flexibel zwischen 08.00 Uhr und 22.00 Uhr sind, werden dann dafür sorgen, dass ich gar keine Freizeit mehr habe und das viele Geld, was ich verdienen werde, sparen kann, um im Alter nicht arm zu sein. Mir wird warm ums Herz und wir beenden das Gespräch. Frau Stoffel geht vor. Eine letzte Gelegenheit, sie ausführlich zu betrachten. Ihre Oberschenkel sind mächtig. Zwei Oberschenkel von mir ergeben etwa einen ihrer Oberschenkel. Über den Schenkeln bewegt sie ihren mächtigen Hintern. Ich komme mir vor, als folgte ich einem Dickhäuter. Weil solche Gedanken schändlich sind, schüttle ich mich kurz und blicke woanders hin. Die Frau ist nett, jung und hat in ihrem Leben beruflich schon viel mehr erreicht als ich je erreichen werde, da sind Kurven und Dickhäuter wirklich nichts, worüber ich mir Gedanken machen sollte. Auf Wiedersehen, Frau Stoffel. Vielleicht sind Sie schon bald meine Vorgesetzte und ich Ihr ergebener Call Center Diener.
Laktosemalabsorption
Der Bericht vom Labor ist eindeutig. Ich habe eine klassische Laktosemalabsorption. Ein Wort, welches ich zum ersten Mal höre, was aber nichts weiter bedeutet, als dass ich ein Problem mit Milch habe. Mal ganz einfach ausgedrückt. Und so teilt mir mein Heilpraktiker mit, dass ich in Zukunft, was zunächst vier Wochen bedeutet, komplett auf Milchzucker verzichten muss. Klingt einfach, aber ich fürchte, dass es nicht wirklich einfach wird, weil das Zeug ja in vielen Produkten steckt. Nach den vier Wochen sollte es mir besser gehen und vielleicht kann dann versucht werden, Milchzucker zu probieren, um herauszufinden, wo meine Toleranzgrenze ist. Mit zunehmendem Alter wird das Leben echt immer komplizierter. Der Körper verfällt nicht nur, er entwickelt auch Intoleranzen, die nicht mehr schön sind. Für einen Essgestörten wie mich ist diese Milchzuckerunverträglichkeit doppelt lästig. Ab sofort muss ich mich nicht nur darauf konzentrieren, dass ich überhaupt etwas esse, jetzt muss ich auch besonders darauf achten, dass es laktosefrei ist. Wenn das so weiter geht, werde ich in Kürze völlig verrückt werden. Ich weiß auch nicht, ob es tröstlich ist, dass mittlerweile die Hälfte meines Lebens vorbei ist.
Frau Hülle und Herr Ranzig
Zwei Wochen nach ihrem letzten Besuch, sitzt Frau Hülle wieder bei mir im Büro. Die letzten beiden Bewerbungen, die ich für sie erstellt habe, hat sie verschickt. Immerhin. Doch das war es auch schon mit der Herrlichkeit und den guten Nachrichten. Frau Hülle hat nämlich danach verzweifelt und in großer Verwirrung ihre Zeit damit verbracht nachzudenken, Stellenanzeigen zu lesen und sich gefragt, wie es weitergehen soll. Ganz aufgelöst sitzt Frau Hülle vor mir und ich habe nicht das Gefühl, dass sie hier ist, um sich Bewerbungen schreiben zu lassen, sondern eher um jemanden zum Reden zu haben und ihren seelischen Ballast abzuwerfen. Ich, als nicht für solche Zwecke ausgebildeter Arbeitsloser, bin da genau der richtige Zuhörer. Verständnisvoll und aufmerksam höre ich, was Frau Hülle vorzutragen hat. Ihr Ohrenarzt hat sie zu einem Neurologen überwiesen, weil er das Gefühl hat, dass Frau Hülle Hilfe braucht. Ich überlege, ob es nicht sinnvoll wäre, wenn ich auch Überweisungen ausstellen dürfte. Dann hätte ich Frau Hülle längst zu einem Psychologen überwiesen. Stattdessen höre ich mir weiter an, was in ihrem wirren Köpfchen vor sich geht und stelle fest, dass Frau Hülle sich heute geschminkt hat. Gegen ihre Depressionen hilft das leider nicht. Wir suchen, wie es mittlerweile Tradition ist, nach einem Job für Frau Hülle, was in etwa so unsinnig ist, wie auf die Landung von Marsmännchen zu hoffen. Frau Hülle möchte Spülmaschinen einräumen, oder etwas mit den Händen machen, vielleicht basteln. Vielleicht sollte sie Bedürftigen mit ihren Händen einen runterholen, was ich allerdings nicht vorschlage, weil ich meinen Job schon seriös ausübe. Stattdessen schlage ich ihr die Zeitarbeitsfirma vor, bei der ich mich letzte Woche vorstellen musste. Ob sie sich vorstellen kann, im Call Center zu arbeiten? Natürlich nicht. Schließlich wird sie immer ganz nervös, wenn sie mit Fremden reden muss. Warum nur redet sie hier immer so viel? Ich drucke ihr zwei weitere Stellenangebote aus und sage, dass sie dort mal anrufen und nachfragen soll, ob jemand sie einstellen möchte. Ich fürchte, dass Frau Hülle nun wieder Tage und Nächte damit verbringen wird, sich Gedanken über die Stellenangebote und ihre Fähigkeiten zu machen. Bevor sie geht, fragt sie, was sie sagen soll, wenn jemand nach ihren Stärken, die sie, wie sie ausdrücklich betont, nicht hat, fragt. Ich sage ihr, dass sie einfach etwas von Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit sagen soll. Frau Hülle hat da Bedenken, weil sie Schwierigkeiten mit der Pünktlichkeit hat. Mir bleibt nichts anderes übrig, als ihr zu sagen, dass sie möglichst bald den Termin beim Neurologen wahrnehmen soll und unbedingt mit ihrem Arbeitsberater sprechen muss. Die geforderten fünf Bewerbungen pro Woche sind nicht nur zu viel, sondern völlig unmöglich für sie. Und das nicht nur, weil sie tagelang über alles nachdenken muss. Einen neuen Termin möchte Frau Hülle nicht. Sie will sich zunächst sammeln, den Neurologen und den Arbeitsberater anrufen und sich danach wieder melden. Auch wenn sie mir Leid tut, hoffe ich, dass sie sich viel Zeit lässt, bevor ich wieder etwas von ihr höre. Denn helfen kann ich ihr leider nicht.
Der Arbeitstag ist allerdings noch nicht vorbei und es wird noch einmal ganz anders als erwartet, denn der letzte Besucher des Tages, der fast jede Woche hier ist, überrascht mich heute auf ganz besondere Weise. Er hat einen Ordner mitgebracht. Fein säuberlich hat er dort alle Bewerbungen, die er in den letzten zwei oder drei Jahren geschrieben hat, abgeheftet. Ebenso alle Schreiben, die er von der Agentur für Arbeit bekommen hat. Eine solche übertriebene Sammelleidenschaft ist schon fast bedenklich. In den Ordner passt nicht mehr viel rein und Herr Ranzig möchte irgendwelche Anschreiben für die Agentur für Arbeit kopieren. Doch Herr Ranzig ist zu verwirrt, dass alles problemlos abläuft. Er verteilt seine Zettel und Kopien über einen kompletten Tisch, vergleicht, versteht die Welt nicht, schüttelt den Kopf, wird immer aufgekratzter und hektischer. Er sucht etwas, ohne wirklich zu wissen, was er sucht und was da gerade passiert. Es scheint völlig losgelöst von der Welt um ihn herum. Inmitten all seiner Zettel wirbelt er ratlos umher. So stelle ich mir die Abende bei Frau Hülle vor. Nur nutzt sie wahrscheinlich ihre ganze Wohnung für das Chaos. Herr Ranzig muss sich auf den Tisch beschränken. Ob Frau Hülle und Herr Ranzig sich wohl verstehen würden? Eine Stunde dauert der merkwürdige und auch nachdenklich machende Auftritt von Herrn Ranzig. Dann sind alle Kopien gemacht, alle Blätter sortiert und der Ordner geschlossen. Herr Ranzig hat es geschafft, aus minimalen Möglichkeiten ein maximales Chaos entstehen zu lassen und dieses dann fast von Zauberhand wieder aufgelöst. Vielleicht wird aus Herrn Ranzig ja doch noch was. Was auch immer das sein wird.