Für diese Woche gab es eine Urlaubssperre, weil niemand während eines Maßnahmebeginns Urlaub nehmen darf. Eisernes und heiliges Gesetz. Jörg wurde der Urlaub daher gestrichen, und selbst mein Urlaub, der erst in zwei Wochen stattfinden sollte, konnte nicht genehmigt werden, weil in den ersten vier Wochen nach Maßnahmebeginn Urlaub absolut unmöglich ist.
Nun ist Maßnahmebeginn. Jörg weilt im Urlaub, der ukrainische Coach, der früher mal Übersetzer war, hat ebenfalls Urlaub, und die beiden Damen, die längst im Ruhestand sind, aber einspringen, wenn es nötig ist, haben frei. Sie würden, wenn ich unbedingt wollte, zwar einen Tag kommen, aber das fände ich nicht richtig. Denn sie können ja nichts dafür, dass alle Urlaub bekommen haben, obwohl es doch ein heiliges, wenn auch nicht unantastbares, Gesetz ist, dass so etwas eigentlich nicht geht. Natürlich haben nicht alle Urlaub. Ich bin selbstverständlich vor Ort und begrüße neue und alte Gäste zur neuen Maßnahme. Ein neuer Teilnehmer ist mittlerweile zum vierten Mal bei uns. Er müsste seitens des Jobcenters gar nicht hier sein, da er erst seit Kurzem wieder arbeitslos ist, aber er wollte unbedingt zu mir. Jörg und er kommen gar nicht klar, denn der Mann will nicht gecoacht werden und lieber sein eigenes Ding machen. Kann er bei mir, denn bei mir kann fast jeder machen, was er will. Wir plaudern natürlich über Vergangenes und über Frauen. Er will, so sagt er, die Grüßerin demnächst für mich ansprechen, weil sie mir ja gefällt. Ich lehne derartiges ab, denn die Grüßerin ist zum Grüßen da, nicht mehr und nicht weniger. Besagter Teilnehmer, der immer erzählt, ich sei sein Lehrer, sagt, dass ich ihm schon so gut geholfen habe und immer gute Tipps gebe, weshalb er unbedingt zu mir wollte. Mir gefällt das durchaus, das muss ich zugeben.
Kaum ist er weg, sitzt der nächste neue Teilnehmer bei mir. Er war vor zwei Wochen bei der Infoveranstaltung, und ich habe ihn direkt in eine Schublade, die Schublade unschuldiges Opfer, gesteckt. Ich überlege, ob ich ihn nicht besser an Jörg abgebe, weil ich das Gefühl habe, dass er einen richtigen Coach braucht. Einen mit Plan. Daher sage ich ihm direkt, dass mein Kollege – also Jörg – einen Plan hat. Ich hingegen nicht. Wir kommen ins Plaudern, ich haue eine Lebensweisheit nach der anderen raus, und plötzlich sagt er, dass er voll zuversichtlich ist, dass es mit meiner Hilfe klappen wird. Er hat Ideen, und mit meiner Unterstützung will er diese umsetzen. Er wirkt tatsächlich motiviert und scheint an mich zu glauben. Ich frage mich unverzüglich, wie das passieren konnte. Ich habe doch einfach nur dahergeredet, ihm gesagt, dass er für sein Leben verantwortlich ist, Absagen nicht persönlich nehmen soll, und irgendwas über Routinen, Arbeitslosigkeit und eigenes Verhalten erzählt. Irgendwann sagte er, dass er sich in meinen Erzählungen wiedererkennt, und nun ist er zuversichtlich, dass ich der richtige Mann bin. Alles sehr mysteriös. Ich habe wirklich keinen Plan, was ich mache, aber das kann nicht sein, denn wer keinen Plan hat, plant sein Scheitern. Da ich im Moment nicht scheitere, muss ich wohl doch einen Plan haben. Mein Plan ist es vermutlich einfach, für jede Situation eine passende Geschichte zu haben, oder kurzfristig eine zu erfinden. Nun, da er mit mir plant, kann ich ihn nicht mehr an Jörg abgeben. Wenn sich das am Ende mal nicht rächt.
Frau Kratzer, die zum dritten oder vierten Mal bei uns ist, hat ständig das Bedürfnis, mir mitzuteilen, wie anstrengend es mit Jörg ist, weil er sie alle zwei Wochen bei Arbeitgebern anrufen lässt. Sie findet es gut, dass sie das bei mir nicht muss. Ich erinnere mich allerdings daran, dass ich ihr ebenfalls die Hausaufgabe gegeben habe, bei Arbeitgebern anzurufen, und dass sie das auch gemacht hat. Scheinbar ist das nicht dasselbe. Deshalb fordere ich sie auf, direkt noch einen Arbeitgeber anzurufen, was sie unverzüglich macht. Dennoch ist sie weiterhin der Meinung, dass Jörg anstrengend ist und ich nicht. Herrlich, einfach herrlich.
Später habe ich drei Leute aus der Ukraine hier. Alle werden gewöhnlich von Jörg betreut, auch Jörgs Lieblingssteilnehmerin ist dabei. Sie hat rote Haare und ist attraktiv. Jörg hat ihr immer viel erklärt, und die beiden haben viel gelacht, weshalb ich nicht weiß, ob sie bei mir richtig ist. Zuerst einmal schicke ich einen der drei nach Hause, denn er unterschreibt in dieser Woche noch einen Arbeitsvertrag, es gibt daher nichts mehr zu besprechen. Die andere Teilnehmerin spricht kaum Deutsch und kann nicht einmal nach Stellen suchen. Da sie diese Woche noch zwei Vorstellungsgespräche hat, schicke ich sie ebenfalls bald weg. Ich erkenne ein Muster: Ich sorge früher oder später immer dafür, dass ich, wenn wir eine attraktive Teilnehmerin haben, mit dieser alleine bin. Scheinbar kann ich nicht anders. Die Frau muss nächste Woche ein paar Tage in die Ukraine, weil ihr Mann kürzlich im Krieg getötet wurde, was ich schrecklich finde. Unser ukrainischer Coach, ein Mann voller Empathie und Mitgefühl, sprach die Teilnehmerin bei seinem letzten Coaching tatsächlich darauf an. Und es passierte, was passieren musste: Die Frau weinte, und die Situation konnte unser mitfühlender Kollege nicht mehr retten. Coaching ist manchmal doch etwas mehr als nur Bewerbungen versenden. Und wenn man das weder steuern noch kontrollieren kann, dann sollte man sich vielleicht besser nur auf die Bewerbungen beschränken. Zu meiner Überraschung redet die Teilnehmerin viel mit mir, macht sogar ein paar lustige Bemerkungen und scheint sich recht wohlzufühlen, was mir gut gefällt. Vor allem, weil ich meine Zweifel hatte. Denn wer die komplette Betreuung durch Jörg schätzt, kann oft mit meiner völlig anderen Art wenig anfangen. Aber vielleicht bin ich doch ein Mann für fast alle Frauen.
Am nächsten Tag ist hier eine Infoveranstaltung für arbeitslose Talente. Gleichzeitig muss ich eine Teilnehmerin betreuen und ein Erstgespräch führen. Ich pendle zwischen meinen Aufgaben hin und her, als ein kleiner Mann zur Infoveranstaltung kommt. Ich lasse ihn rein, er ist mürrisch, beachtet mich kaum, geht einfach in den Raum und es beginnt eine unglaubliche Show voller abstruser Geschichten, Ausreden, und das alles in einer Abwehrhaltung, die ich als Arbeitsloser nicht besser hinbekommen hätte. Er windet sich, der Mann vom Jobcenter versucht dies und das, alle wirken bemüht, ich grinse fasziniert vor mich hin. Der Mann scheint seinen Kopf immer wieder zwischen seinen Schultern zu verstecken, als könnte er ihn bei Bedarf einfach einziehen, fast wie bei einer Schildkröte. Ich stelle mir vor, dass der Mann bei Jörg landet und sehe quasi dessen Verzweiflung vor mir. Das wird ein Spaß. Aber vermutlich nur für mich.
Der Mann vom Jobcenter hat eine junge Auszubildende dabei, die ich immer mal anlächle, weil sie mir sympathisch ist und mich an Gisa erinnert. Sie redet sogar ähnlich, bewegt sich ähnlich und ich finde das faszinierend, da Gisa bei der Agentur für Arbeit arbeitet. Irgendwie passt das prima zusammen, und ich hätte nichts dagegen, wenn die junge Frau jeden Monat zur Infoveranstaltung mitgebracht wird. Einfach nur, damit die Optik des Raums ein wenig aufgewertet wird.
Kaum ist der unterhaltsame, kleine Mann weg, kommt die nächste Ladung Arbeitsuchender, die ich aber nicht sehe, da ich ein Erstgespräch führen muss. Offensichtlich fällt mein Name, und jemand sucht nach mir. Ich gehe aus dem Büro und treffe auf einen früheren Teilnehmer, der total sauer ist, weil er herkommen musste und auf der Liste steht. Schon damals hatte er kein Verständnis für seine Teilnahme, nun ist er fast schon aufgebracht, weil er an so einer Inforunde teilnehmen muss. Ich versuche, ihn zu beruhigen, weil diese ganze Aufregung erfahrungsgemäß zu nichts führt. Als ich nach dem Erstgespräch zurück zur Inforunde gehe, sind alle noch da, bis auf den aufgeregten Mann. Sollte er tatsächlich zu uns kommen und Jörg sein Coach sein, wird es übel. Denn der Mann wird mit Jörg auf keinen Fall klarkommen. Die beiden werden sicher keinen Spaß miteinander haben.
Ich bin kein Freund dieser Infoveranstaltungen, aber ich muss gestehen, dass mich das heute amüsiert. Und immer wieder, wenn ich das Bedürfnis habe, sage ich irgendeinen Satz, um die Leute zum Lachen zu bringen oder einfach nur, um irgendeine Reaktion zu provozieren. Am unglaublichsten finde ich aber immer noch, dass ich keiner dieser arbeitslosen Leute bin, sondern ein Teil der anderen Seite. Das ist alles total verrückt und amüsiert mich manchmal so sehr, dass ich es nicht in Worte fassen kann.
Gegen 15:09 Uhr kommt ein ukrainischer Teilnehmer zu uns und hat seine Tochter als Übersetzerin dabei. Sie dürfte etwa 13 oder 14 Jahre alt sein und begrüßt mich mit den Worten „Ciao Kakao“, was mir direkt sympathisch ist. Während des Übersetzens ist sie manchmal mit all den Informationen überfordert und spricht plötzlich Englisch mit mir, was mich natürlich überfordert. Es ist fast 16:00 Uhr, bis der Mann alles soweit verstanden hat. Ich merke, dass ich gestresst bin, da ich nicht alles, was ich erledigen wollte, geschafft habe. Nach der Arbeit brauche ich etwa eine Stunde, bis der innere Stress, die Anspannung, mich verlässt. Ich mag es durchaus, wenn ich mal etwas gefordert bin, aber insgesamt ist das langsam zu viel. Die Urlaubssperre wäre in dieser Woche durchaus hilfreich, aber das hilft nun auch niemandem mehr.
Am letzten Arbeitstag der Woche ist die Chefin zurück und macht direkt Pläne für den Fall, dass die Teilnehmerzahl erhöht wird. Meiner Meinung nach werden zwei Coaches dann nicht reichen, zumindest müsste dann jeder von uns während Urlaub oder Krankheit vertreten werden. Wir werden sehen. Mit der Verwaltungskraft bespreche ich einiges und beantworte ihre Fragen. Wie üblich sitzt die Chefin hinter ihr, stellt Fragen und gibt Anweisungen, die die Verwaltungskraft dann an mich weiterleitet. Ich habe nie verstanden, warum die Chefin nicht einfach selbst anruft, sondern immer daneben sitzt und indirekt kommuniziert. Dass ich das nicht verstehe, ist sicher auch ein Grund, warum ich als Führungskraft nicht geeignet bin.
Weiterhin schreibe ich regelmäßig mit Oma Sheriff und als ich ihr schreibe, dass wir demnächst hier noch jemanden brauchen, antwortet sie: Ich soll sie anfordern. Wir beide wissen allerdings, dass sie an ihren beiden Standorten derzeit nicht entbehrlich ist. Ich weiß außerdem, dass Jörg das ganz und gar furchtbar finden würde. Er kann auch immer noch nicht glauben, dass ich gelegentlich mit Oma Sheriff telefoniere. Ist ihm ein Rätsel, wie ich das ertragen kann.
Der weitere Vormittag verläuft recht ruhig. Die rothaarige Ukrainerin schicke ich weg, da sie total erkältet ist, ein Teilnehmer muss zur Fahrschule und so bleibt lediglich Frau Kratzer übrig, die ich aber auch eher gegen lasse, weil bald Ostern ist und ich in Ruhe Berichte schreiben will. Völlig überraschend kommt sie allerdings nach einer Stunde zurück, um mir zu erzählen, wie voll es bei Kaufland war. Scheinbar gefällt es ihr bei mir so gut, dass sie über dreißig Minuten bleibt, obwohl wir uns eigentlich nichts zu sagen haben. Möglicherweise steht sie auf mich, denn sie benutzt auch seit einiger Zeit ziemlich viel Parfum, was mir grundsätzlich gefällt, in diesem Fall aber keinem von uns hilft.
Am Nachmittag läuft es ganz normal, bis gegen 15.00 Uhr der Ukrainer der gestern mit seiner Tochter bei uns war, vorbeikommt, um den Arbeitsvertrag zu bringen und den Darlehensantrag, den ich für ihn geschrieben habe, zu unterschreiben. Ich scanne alles, kopiere es, lade es in der Datenbank hoch. Alles kein Zauberwerk, aber es nimmt Zeit in Anspruch. Es ist noch nicht ganz 15.30 Uhr, da erscheint der nächste Teilnehmer mit einem Arbeitsvertrag. Auch für ihn habe ich einen Darlehensantrag vorbereitet. Gleiches Prozedere wie beim Ukrainer. Der Mann hat übrigens seinen Sohn dabei, dieser sucht einen Ausbildungsplatz und benötigt Hilfe. Der Vater schlägt vor, dass der junge Mann zu mir kommt, weil ich gut bin und helfen kann. Der Sohn will beim Jobcenter nachfragen, ob er zu mir kann. Für einen Moment komme ich mir wertvoller vor, als ich eigentlich bin.
Das war der dritte Maßnahmetag und es gab schon zwei Arbeitsaufnahmen. Die Quote liegt somit bei 200%, weil irgendwer nicht richtig programmieren kann. Meine Excel Tabelle kann es besser und bestätigt mir eine Quote von 100%. Wenn man uns hier in Ruhe arbeiten lässt, holen wir durchaus einiges raus, aber dennoch werden wir nie die Qualität von Miss Erfolg erreichen.
Die beiden Abschlussberichte schaffe ich heute nicht mehr, denn ich bin keine Maschine und merke, dass die Woche mich teilweise an meine Grenzen brachte. Ich freue mich schon auf die nächste Urlaubssperre, die vermutlich wieder nur für mich gilt.
Die Welt des DrSchwein
Verkorkste Höhepunkte
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