Es ist etwa 15.15 Uhr, als es an der Tür klingelt. Jörg öffnet und unterhält sich mit einer Frau, die recht bald fragt, ob ich da bin und wenig später bei mir im Büro steht. Es ist die Brasilianerin und sie sieht heute nicht nur gut aus, sie hat auch eine Packung Milka Pralinen dabei und ich vermute, so arrogant bin ich, dass sie für mich ist. Ich bekomme mein Geschenk, bedanke mich und frage natürlich, warum sie mir etwas mitgebracht hat. Sie antwortet: „Ich habe an Dich gedacht.“ Das ist entzückend und ich finde, da darf sie mich ruhig mal duzen. Ich bedanke mich nochmal und sage, dass ich das sehr nett finde. Außerdem sage ich, dass ich sie vermisst habe und dachte, sie würde gar nicht mehr zu uns kommen, weil sie über einen Monat nicht hier war. Sie erzählt, dass sie zweieinhalb Wochen krank war, viel gearbeitet hat und deshalb nicht zu uns kommen konnte. Sie war auch bei mehreren Ärzten, wurde mehrfach untersucht, aber trotz der offensichtlichen Probleme, sagen alle Ärzte, sie sei gesund, was sie natürlich ziemlich belastet. Ihre Ausbildung hat sie bisher noch nicht abgebrochen, sucht aber intensiv nach irgendwelchen Helferjobs. In den nächsten Tagen hat sie ein Vorstellungsgespräch bei einer Zeitarbeitsfirma, von der ich nicht viel halte. Als Coach und väterlicher Freund muss ich ihr davon abraten. Außerdem sage ich ihr, dass sie nichts unterschreiben soll, ohne vorher mit mir zu reden. Mal schauen, ob sie sich daran hält. Da ich nichts Interessantes zu erzählen habe, bin ich froh, dass sie redet und ich sie dabei einfach anschauen kann. Wie immer bin ich von ihren Fingern und Händen ganz angetan. Beim Betrachten entdecke ich zwei Narben, spreche sie aber nicht darauf an. Und was für schöne Lippen sie hat, und ihre Haut, so zart, so glatt. Immer wieder ein schöner Anblick. Am Wochenende will sie nach Hamburg. Gerne würde sie dort mit einer Bekannten in eine WG ziehen, weiß aber, dass es in ihrer jetzigen Situation unrealistisch ist. Um ihr Visum muss sie sich auch kümmern, da es abgelaufen ist. Immer was zu tun, die junge Frau.
Frau Kratzer, die einzige Teilnehmerin, die noch da ist, hat Feierabend, legt ihre Mappe im Vorbeigehen mit einem Kommentar, den ich nicht verstehe, auf meinen Tisch und geht zur Toilette. Die Brasilianerin muss lachen und ist offensichtlich sehr amüsiert. Ich frage sie, was so lustig ist. Sie sagt, es ist die Art, wie die Frau die Mappe auf den Tisch geknallt hat und macht es nach. Wenn man es so betrachtet, könnte man glauben, dass Frau Kratzer unzufrieden ist, weil die Brasilianerin meine ganze Aufmerksamkeit bekam und Frau Kratzer sich vernachlässigt fühlt. Das ist witzig, aber ich glaube nicht, dass es wirklich so war. Vielleicht frage ich Frau Kratzer beim nächsten Termin, ob sie zu wenig Aufmerksamkeit von mir bekam. Wahrscheinlich aber nicht. Die Brasilianerin erzählt wieder einmal, wie einsam sie ist und ich frage mich, wer der Mann ist, der gerade angerufen hat und dem sie sagte, dass sie ihn gleich zurückrufen wird. Scheinbar niemand, der ihre Einsamkeit verringern kann. Da sie abermals bleibt, bis ich Feierabend habe, muss er eine Weile auf den Rückruf warten. Ich bin kein Arzt und habe keine Ahnung, aber ihre Einsamkeit und ihre gesundheitlichen Probleme könnten theoretisch durchaus irgendwie zusammenhängen. Ich spreche das natürlich nicht an, weil ich nicht glaube, dass ihr das irgendwie helfen könnte und es auch nur eine Vermutung ist. Mal sehen, wie es sich entwickelt und ob vielleicht irgendwann die Ursache des gesundheitlichen Problems entdeckt wird. Zum Abschied frage ich sie, ob sie erst nächsten Monat wiederkommen wird. Sie antwortet, dass es nicht so lange dauern wird, worauf ich erwidere, dass ich mich freue und meine es tatsächlich so. Und das liegt nicht nur daran, dass sie mir etwas mitgebracht hat. Doch das spielt natürlich schon eine große Rolle.
Ist das nicht entzückend?