Es ist mal wieder Zeit für einen Blick zurück ins Jahr 2015. Heute präsentiere ich die Geschichten von vier wirklich feinen Menschen, die mich damals während meiner ehrenamtlichen Tätigkeit aufsuchten und Hilfe wollten. Es sollte wieder mehr solcher Geschichten geben.
Agatha
Auch heute ist der Terminkalender wieder gut gefüllt. Der dritte Termin des Tages geht an Agatha. Sie ist etwas älter als ich und ich habe sofort das Gefühl, dass ich ihr sympathisch bin. Abgesehen davon, dass ich in Wahrheit nur selten sympathisch bin, verläuft der Termin recht normal. Sie redet auf mich ein, während ich ihre Bewerbungsunterlagen erstelle und weil ich nicht wirklich zwei Dinge zugleich tun kann, konzentriere ich mich auf die Bewerbung und tue an den passenden Stellen so, als würde ich ihr konzentriert zuhören. Ab und zu mal ein Kopfnicken, ein kleiner Kommentar und Agatha fühlt sich wohl. Nachdem ihre Unterlagen erstellt sind und sie zufrieden ist, habe ich noch eine halbe Stunde Zeit bis zum nächsten Termin. Die Zeit möchte ich nutzen, um eine Kleinigkeit zu essen. Ich warte nur noch darauf, dass Agatha das Büro verlässt. Sie ist schon fast so weit, als sie mich fragt, ob sie mir eine Geschichte, die ich sicher so noch nie gehört habe, erzählen darf. Wenn etwas so anfängt, dann kann es nicht gut werden. Doch weil ich ein gelegentlich sympathischer Mann bin, gebe ich mich interessiert und bin gespannt, was sie zu erzählen hat. Und schon geht es los. Agatha gesteht mir, dass sie über zehn Jahre ein Verhältnis mit dem Mann ihrer Schwester hatte. Ihre Schwester, so sagt sie, ist etwas zurückgeblieben und der Mann nur noch bei ihr, weil die Schwester alleine nicht lebensfähig ist. Ich frage mich, ob ich in einer dieser nachmittäglichen Sendungen auf RTL oder RTL2 gelandet bin. Da gibt es auch immer so abstruse Geschichten. Da allerdings kann ich wegschalten. Hier geht das nicht. Nun gesteht mir Agatha etwas, was sie noch nie jemandem erzählt hat und was auch niemand in ihrer Familie wissen darf, weil sie sonst verstoßen würde. Sie hat nämlich ein Kind mit dem Mann ihrer Schwester. Dieses Kind ist zwar etwas zurückgeblieben, aber sie hofft, dass es eines Tages in der Lage sein wird, alleine und selbständig zu leben. Dafür tut sie alles. Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll, dass ich nun Dinge weiß, die sonst angeblich keiner weiß. Ihre Schwester hat auch ein Kind mit dem Mann. Das nimmt ihr Agatha aber nicht übel. Dem Mann auch nicht, weil es ja seine Frau ist. Sie versteht nur nicht, wieso der Mann sich nicht trennen will, weshalb sie einen Schlussstrich unter die Beziehung gezogen hat. Der Mann geht zwar noch davon aus, dass sie ihre Meinung irgendwann ändert, aber sie sagt, das werde nie geschehen. Und ich frage mich, womit ich es verdient habe, dass sie mir ihr Herz ausschüttet. Ich bin doch kein Pfarrer und auch nicht ihr Beichtvater. Ich bin nur ein ehrenamtlich tätiger Arbeitsloser, dem aus unerklärlichen Gründen die Leute Sachen anvertrauen, die ihn gar nichts angehen. Und ich will das auch nicht wissen. Wenn mich so etwas interessieren würde, würde ich den ganzen Tag diese Sendungen im TV gucken. Agatha ist nun irgendwie stolz auf sich und stellt mir eine Frage, die ebenso eine Aussage sein kann. „So etwas haben Sie noch nicht gehört?“ Darauf kann ich nicht viel antworten außer „Nein“, weil ich so etwas wirklich noch nicht gehört habe. Außer im Fernsehen, aber das zählt nicht. Wie kommt man nur auf die Idee, so etwas einem Fremden zu erzählen? Und macht uns das jetzt zu Verbündeten? Verbindet uns das nun bis zum Ende unseres Daseins? Und wenn ja, auf welche Weise und warum? Und wie viele Geschichten wird mir Agatha noch erzählen? Für heute ist sie jedenfalls fertig und verabschiedet sich von mir. Dabei wirkt sie irgendwie glücklich, eventuell sogar befreit. Vielleicht hat es ihr gut getan, den ganzen Ballast mal loszuwerden. Vielleicht bin ich doch nicht so unsympathisch, wie ich immer denke, denn ich habe konzentriert bis zum Ende zugehört und keine blöden Kommentare dazu abgegeben. Vielleicht wird doch noch etwas aus mir. Aber was?
Tim und Tom
Ich weiß noch gar nicht, was ich von Agathas Auftritt halten soll, da stürmen Tim und Tom mein Büro. Blitzschnell muss ich mich auf die beiden und ihr Temperament einstellen. Beide wollen bei IKEA arbeiten und ich soll ihnen bei den Bewerbungen helfen. Tim hat seine Bewerbungsunterlagen dabei. Ich soll sie nur mal überprüfen und verbessern. Ihm fehlt das Bewerbungsfoto, doch das wollen die beiden gleich hier mit der Kamera des Mobiltelefons machen. Tom hat ein Bewerbungsfoto dabei, aber beim Rest hapert es. Die beiden reden viel und schnell und sind der Meinung, dass wir uns duzen sollen. Die Stimmung ist ausgelassen fröhlich. Die Stimmung von Tim und Tom. Ich passe mich nur soweit an, dass es stimmig wirkt. Jetzt wo wir uns duzen sind wir wohl sowas wie Kumpel für den Augenblick. Toms Bewerbung ist anders. Die förmliche Anrede wurde durch Du und Ihr ersetzt. Weil IKEA das so möchte und man so mit denen redet. Mir soll es recht sein. Ausbruch aus dem Einheitseinerlei. Ich ändere ein paar Sätze, Tom macht ein paar Fotos von Tim, wir wählen ein passendes aus und fertig ist die Bewerbung von meinem Kumpel Tim. Tim riecht übrigens irgendwie nach Alkohol. Ob er gestern gefeiert hat oder sich heute zum Frühstück etwas gegönnt hat, vermag ich nicht zu beurteilen. Aber vielleicht ist er deshalb so überschwänglich und zuversichtlich. Tom ist etwas weniger aufgekratzt als Tim und weniger gut vorbereitet, weshalb es etwas länger dauert, seine Bewerbung zu erstellen. Während ich an der Bewerbung arbeite, sind die beiden ausgelassen und voller Elan. Sie erzählen sich, oder mir, wie geil es wäre, wenn es bei IKEA klappt. Denn bei IKEA sind Arbeitsbedingungen und Bezahlung viel besser als woanders. Das wissen sie, weil ein Kumpel von ihnen da arbeitet. Echte Kumpeltypen sind die beiden und herrlich unkonventionell. Und ich bin ihr talentierter neuer Kumpel, der gerade noch als Beichtvater tätig war. Innerhalb weniger Minuten bin ich in eine völlig neue Rolle geschlüpft. Auch wenn mir diese ausgelassene Stimmung zu viel ist und ich es eher beschaulich und ruhig mag, fülle ich meine Rolle prima aus. Und ich wette, dass ich dabei sympathisch rüberkomme. Nachdem die Bewerbungsunterlagen erstellt sind, verabschieden sich die beiden aufgedrehten Jungs und ich wünsche ihnen und mir, dass die Bewerbungen zum Erfolg führen werden. Als was werde ich wohl als nächstes gebraucht?
Hani
Kaum sind meine Kumpel auf Zeit weg, folgt der letzte Termin des Tages. Hani braucht Hilfe. Hani kommt schon seit Jahren her und es gelingt mir einfach nicht, ihm eine erfolgreiche Bewerbung zu erstellen, die ihm einen Job bringt. Vielleicht liegt es aber auch an Hani, dass er keinen Job findet. Hani ist über 50 und hat aus gesundheitlichen Gründen einige Einschränkungen. Hani ist ein lieber Kerl und hat heute ein paar Adressen mit, wo er sich bewerben will. Mein größtes Problem ist, dass Hani nicht so gut deutsch kann und dazu noch leise und meiner Meinung nach undeutlich spricht. Darum gestaltet sich die Kommunikation recht schwierig. Ich frage häufig nach und weiß dennoch oft nicht, was Hani möchte. Also nicke ich ab und zu oder sage etwas, wovon ich glaube, dass es jetzt passt. Hani ist dann immer dankbar und scheint mich auch zu mögen, weil er heute nach Sachen fragt, die nichts mit dem Termin zu tun haben. So beantworte ich seine persönlichen Fragen an mich und es scheint so, als würde ich einen neuen Freund gewinnen. Wenn ich ihm schon nicht helfen kann, dann kann ich ihm wenigstens das Gefühl vermitteln, dass er nicht alleine ist und ernst genommen wird. Ich kann echt gut mit Leuten umgehen, die es nicht unbedingt leicht haben. Hani ist jedenfalls glücklich und möchte schon in zwei Wochen wiederkommen, damit ich ihm aus dem Internet ein paar Stellenangebote aussuche, um ihm dann weitere Bewerbungen zu schreiben. Ich glaube nicht, dass ihm das mit den Bewerbungen wirklich etwas bringt, aber ich denke, dass er sich hier gut aufgehoben und verstanden fühlt. Und das ist besser als gar nichts. Ich bin längst zu einer Anlaufstelle für Menschen geworden, die einfach mal jemanden brauchen, der ihnen zuhört und ein gutes Gefühl vermittelt. Und nebenbei schreibe ich Bewerbungen. Wenn das so weitergeht, werde ich mir irgendwann auch noch sympathisch. Vielleicht sollte ich mir auch mal Bewerbungen schreiben.
Welche der Geschichten hat Ihnen am besten gefallen? Welche dieser Personen hat ihr Herz im Sturm erobert?
Was sonst noch im Februar 2015 passierte gibt es hier.