7 am 7ten – 16

7am7ten

Die 7 Wörter lauten:
Akzeptieren – Schwer – Pillendose – Zukunftsorientiert – Auge – Metzger – Fangen

Metzger ist sein Beruf und er hielt sich für zukunftsorientiert, doch eine Zukunft hat er schon lange nicht mehr. Heute fällt ihm das Leben nur noch schwer. Seine Tochter, die ein Buch schreiben wollte, mit der er früher Fangen gespielt hat, bevor sie sich mehr und mehr veränderte, lebt nicht mehr. Wie soll er je akzeptieren, dass sie tot ist? Wieso hat er es nicht verhindert? Oft sagte er, als seine Tochter noch lebte, dass er ein Auge geben würde, nur um sie von ihrer Sucht zu befreien. Er hat es aber nicht getan, es hätte vermutlich auch nichts geändert. In der Hand hält er die Pillendose seiner Tochter. In der Pillendose liegt ein Auge. Sein rechtes Auge. Es ist zu groß für die Dose, doch alles ist egal, wenn die eigene Tochter vor einem stirbt und man sich schuldig fühlt, weil man es nicht verhindert hat.


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  1. Die Fortsetzung…

    Als Kamelhaar-Harris noch nicht »Kamelhaar-Harris«, sondern
    nur »Herr Harris« hieß, war er ein unauffälliger
    Angestellter mittleren Alters. Das einzige Auffällige an
    ihm: Er ging seit 25 Jahren zur Psychotherapie. Dies tat er
    ohne je das Gefühl zu haben, dass sich sein Leben dadurch
    verbesserte. Und warum ging er da eigentlich hin?
    Weil er sich permanent vom Leben überfordert fühlte. Auf dem
    Gefühl, nicht in diese Welt zu passen, blieb er hängen.
    Ein Gefühl, dass ihn schon seit seiner Jugend begleitete. Dies
    und andere »Stachel« und Komplexe bildeten das Einfallstor
    mit dem man ihn vom Leben abhalten konnte und auch
    erfolgreich abhielt.
    Er konnte seine Situation weder akzeptieren, noch
    daran etwas ändern.

    Die Therapeutin hätte sich von dem Geld, dass sie allein
    durch die Sitzungen mit ihm verdiente, inzwischen ein
    Ferienhaus in Spanien kaufen können. Herr Harris wurde durch
    die regelmäßigen, zum Ritual gewordenen, Therapiestunden, so
    ihre Meinung, geerdet und verursachte damit anderen Menschen
    keine größeren Befindlichkeiten.

    Herr Harris fuhr meist mit dem ÖPNV von der Arbeit in die
    Praxis zur »Therapie«. Er fragte sich, ob nicht auch das
    häufige Hören des Satzes »Zurück bleiben bitte!«, welcher
    gerade wieder blechern aus einem Lautsprecher tönte, eine
    Mitschuld daran trug, dass er, wie er fühlte, im Leben
    insgesamt etwas zurück geblieben war. Er dachte, die
    Umstände bedingten sich gegenseitig. Einerseits hielt ihn
    der ÖPNV zurück, andererseits, so folgerte er aus seinen
    Beobachtungen, stellte der ÖPNV die häufigste Mobilitätsform
    der Zurückgebliebenen dar. Hier fanden sich die aus der
    Gesellschaft eigentlich ausgeschiedenen. Die verarmten
    Pensionäre, sowie diejenigen, die kein Fahrzeug mehr führen
    konnten oder durften. Hier nahm man Teil an den
    soziologischen Experimenten und Menschenversuchen. Hier
    rekrutierte sich die Verfügungsmasse mit der eine zentrale
    Steuerinstanz ganz nach Belieben ver-fahren konnte. Wenn
    Kinder sich unflätig benehmen, so werden sie von den
    schlechteren Erziehungsberechtigten auf die »stille Treppe«
    gesetzt, in die Ecke, herausgenommen aus ihrer Autonomie –
    so wie es auch die Bestrafung von Erwachsenen vorsieht. Man
    nimmt ihnen das wertvollste, was sie haben: die
    Verfügbarkeit über ihre Lebenszeit.

    Schon wieder musste er aufgrund eines »Polizeieinsatzes«
    länger warten, in der Kälte. Er wusste nicht, dass sich
    hinter diesen »Polizeieinsätzen« keine wirklichen Amokläufe
    oder andere gewichtige Gründe verbargen. Oftmals ging es um
    Geringfügigkeiten, wie dass eine Irmgard genannte Polizistin
    ihre Waffe nicht finden konnte und glaubte, sie habe sie in
    der S-Bahn liegen lassen. Also wurde das Ding angehalten und
    durchsucht. Manchmal hielten die Polizisten die S-Bahn auch
    nur an, um sich über die, Zitat, »dummen Gesichter« der
    Fahrgäste in den Kameras zu beeumeln.

    Bei der ganzen Warterei, dem durch die Ausfälle
    hochgeputschten Füllstand der Abteile und der in der Folge
    schwer gereizten Stimmung der Insassen hielt es Herr Harris
    für nicht unplausibel, dass da mal jemand wirklich austickt.
    Vielleicht hatte sich wieder einer vor den Zug geworfen.
    »Sie propagieren sich selbst«, dachte er. Der Suizident, der
    sich vor den Zug wirft, stresst hunderte, vielleicht
    tausende Menschen in der Folge, von denen sich
    wahrscheinlich dann dadurch wieder einige vor den Zug
    werfen. Ein endloser suizidaler Kreislauf. »The Circle of
    Death«. Und doch wurden es immer mehr und nicht weniger
    Fahrgäste. Wo kamen die alle her, wo wollten die alle hin?

    Wenn Herr Harris mit dem ÖPNV in die Praxis zur »Therapie«
    fuhr, filmten ihn dutzende Kameras. Irgendwann hatte man
    angefangen das gesamte Leben in einen Raum zu verwandeln,
    der verstärkt die technologische Ausstattung hatte, wie
    früher der Hochsicherheitstrakt von Gefängnissen.
    Elektronische Fußfessel inklusive, nur dass man die
    gewöhnlich in der Hand hielt und verniedlichend »Handy«
    nannte. Er sah in seinem Abteil, wie die Mehrheit der
    Insassen ihre Handies streichelten.

    Herr Harris nannte die Summe an Überwachungsmaßnahmen einen
    »Misstrauensvorschuss«. Niemand konnte sagen, wer das alles
    eigentlich bestimmt und installiert hatte. Er jedenfalls
    führte sein Leben irgendwann so, dass die Totalüberwachung
    keine Rolle mehr für ihn spielte. Allerdings nicht in der
    Weise, wie die meisten, dass er sich konformer verhielt,
    sondern indem er Beziehungen vermied und stets darauf
    bedacht war, die Anzahl der Bindungen, die er unterhielt, zu
    minimieren. Wie Zootiere oder allgemein in Gefangenschaft
    gehaltene Tiere, verlor er seinen natürlichen Kompass. Alles
    wurde erzwungenermaßen immer »sozialer«. Wobei mit »sozial«
    gemeint ist, was irgendwem Arbeit schafft und einem selbst
    Arbeit und Umstände macht. Die gegenseitige Verstrickung
    aller Lebensbereiche trieb man weiter voran. Klassische
    Sphären vermischten sich. Intimität zwischen Menschen
    verunmöglichte schon der Umstand, dass ein Großteil der
    Kommunikation indirekter wurde. Immer gab es mindestens
    einen, wenn auch »transparenten«, dritten Vermittler.
    Überall wurde etwas dazwischen geschaltet. Ging man
    beispielsweise zum Arzt, so machte man nicht mehr nur einen
    Termin mit diesem, sondern die Termine wurden über eine App,
    also einen weiteren Akteur organisiert. Für die Ausstellung
    eines vom Patienten einsehbaren Rezepts kamen noch ein
    Authentifizierungsdienstleister, eine Krankenkassenapp und
    eine Ausweisapp mit ins Spiel, wo früher nur ein Stück
    Papier und ein Arzt und ein Apotheker genügten, um zu seiner
    Pillendose zu gelangen.

    Der Schöpfer all der Überwachungsarchitekturen, so dachte
    Herr Harris, musste antizipieren, damit rechnen, dass die
    Menschen sich auflehnend verhalten würden, bei dem, was mit
    ihnen anzustellen man vorhatte und dass sie folglich
    überwacht werden müssen. Damit lag in diesem
    »Misstrauensvorschuss« auch eine verborgene Empfehlung
    dessen, was die damit belegten eigentlich hätten tun müssen.

    Doch der große Widerstand blieb aus. Man terrorisierte alles
    und jeden und alle sich gegenseitig, nur gegen eines lehnte
    sich niemand auf: die Obrigkeit. Wozu auch? In der DDR
    arbeiteten mehr als 150.000 Menschen direkt oder indirekt
    für die Staatssicherheit, ca. 1 % der Bevölkerung. Wieviele
    Menschen arbeiteten jetzt direkt oder indirekt für
    staatliche oder halbstaatliche Unternehmen? Letztlich
    partizipierten wahrscheinlich mehr als 60 % von der
    Situation wie sie ist. Also ist es schon irgendwie
    demokratisch.

    Man schuf Verhältnisse im öffentlichem Raum, die dafür
    sorgten, dass sich die Menschen gegenseitig maximal
    bedrängten. Eine feindselige Gestaltung der gemeinschaftlich
    genutzten Bereiche hatte den Zweck subtil die
    Aufenthaltsdauer in diesem Bereich zu reduzieren. Außerdem
    vergrößerte sich die Bevölkerung anscheinend immer weiter.

    Die S-Bahn nannte Harris, »Seuchen-Bahn«. Wenn er das
    Gedrängel betrat und sich an den Menschen dort vorbei presste,
    erschien es ihm wie ein Minenfeld. Jeder zweite Passagier
    nieste oder hustete in seine Richtung, just in dem Moment,
    da Herr Harris in die Nähe desselben kam. Menschen als durch
    Nähe ausgelöste Abnies- und Abhustminen, ein ganzer Wagon
    voll davon. Sie schienen sich auch gegenseitig auszulösen.
    Wie eine Laola-Welle wogte das Geniese und Gehuste in den
    Abteilen hin und her. Kein Wunder dass er ständig kränkelte.
    In letzter Zeit hatte er oft starke Kopfschmerzen und ihm
    war übel. Anscheinend ging es nicht nur ihm so mit der
    Übelkeit. Obwohl sich alle Menschen im Wagon wie Sardinen
    drängten, gab es ein freies Viererabteil, wo niemand stand
    und eine unsichtbare Wand die Passagiere fernzuhalten
    schien. Herr Harris ahnte, warum sich niemand dort hinsetzen
    wollte, doch er musste sich Gewissheit verschaffen. Er
    brauchte sich gar nicht viel zu verrenken, um das Ausmaß des
    Erbrechens ermessen zu können. Den gesamten
    Viersitzerbereich samt Boden bedeckte eine Schicht von
    Auswurf undefinierbarer Zusammensetzung. Kein einzelner
    normaler Mensch hätte dies produzieren können oder nur
    jemand mit einem außergewöhnlich dehnbaren Magen. Die
    plausibelste Erklärung schien, dass sich hier Menschen einer
    Gruppe gegenseitig zum Erbrechen inspirierten. Also
    nichts wie weg da und zurück ins Gedrängel, denn »die Würde
    des Menschen ist unzerquetschbar«. Dieses Verkehrsmittel
    konnte nicht zukunftsorientiert sein. Zumindest nicht in
    Bezug auf seine Zukunft.

    Harris war eigentlich ein empathischer und von seinem
    Naturell her, im ursprünglichen Sinn, sozialer Mensch.
    Vieles hätte er verstanden, wenn man es ihm nicht extra und
    wiederholend erklärt hätte. Seine täglichen Wege waren von
    Werbetransparenten gepflastert. Die klassische kommerzielle
    Werbung hatte man im öffentlichen Raum irgendwann zurück
    gedrängt, an ihrer Stelle hatten sich dafür vermehrt
    aktivistische Benimm-dich-Regeln oder Ersatzreligiöse
    Mantras oder auch einfach nur Grußbotschaften von der
    Regierung eingefunden.

    Herr Harris verhielt sich instinktiv so, dass er die
    Erwartungen, die im Alltag an ihn gestellt wurden, erfüllte.
    Dies erwies sich nur mehr und mehr als verhängnisvoll. Die
    Idee des allem mitschwingenden »Misstrauensvorschuss« hatte
    sich in sein Hirn gebrannt. Und Harris hatte sich im Leben
    so zuverlässig verrannt, dass er ohne eine höhere Fügung, da
    allein nie wieder heraus gefunden hätte. Alles, was ihn
    vermeintlich näher an eine »Lösung« seiner gravierendsten
    Probleme heranzubringen schien, entpuppte sich als ein
    Abomodell vermeintlicher »Helfer« auf zusätzliche neue
    Probleme. »Sein« Leben hatte schon lange aufgehört, sein
    Leben zu sein. Ein Spielball in einem Flipperautomaten, das
    war er. Er durfte machen, was er wollte, solange er den
    Flipper und seine Laufbahn nicht verließ. Die Illusion von
    Freiheit, die durch die Geschwindigkeit und den Ortswechsel
    entsteht, hielt ihn behelfsmäßig am Leben. Auch die andern
    Menschen nutzten diesen Effekt ausgiebig und verreisten bei
    jeder Gelegenheit am besten ganz weit weg. Die Reisefreiheit
    bezahlte man damit, dass man nirgendwo mehr richtig wohnen
    und Zuhause sein konnte. Aus der Reisefreiheit wurde durch
    die beruflichen Gegebenheiten eine Reisepflicht. Die
    Entfernungen, die für den Berufsalltag zurückgelegt wurden,
    nahmen immer größere Ausmaße an.

    Herr Harris saß später in der Praxis, so wie immer, auf
    einem unbequemen Plastikstuhl, an einem Tisch von unbequem
    niedriger Höhe. Doch diesmal schweifte sein Blick aus dem
    Fenster. Wolken, die die Sonne bedeckt hatten, gaben sie
    wieder frei und es war ein außergewöhnliches Licht, wie man
    es nur in den Übergangsjahreszeiten sehen kann. Die
    unbelebte Natur hob sich in ihrer Buntheit und Dynamik
    derartig von der belebten ab, dass der Kontrast geradezu
    komisch wirkte. Pink-rote Wolken, die einen gelb-blauen
    Himmel durchzogen.

    Er verlor sich weiter in Gedanken.
    In den letzten 25 Jahren hatten sich zwei Menschen in seinem
    Bekanntenkreis das Leben genommen. Ihm war plötzlich klar,
    dass es in einer »Therapie« gar nicht darum geht, die
    Lebensqualität zu steigern. Oder das Leiden am Leben zu
    reduzieren. Sondern viel mehr, mit dem Leiden, welches das
    Leben, ja, eigentlich doch viel eher die »Gesellschaft« und
    die »Sitte« selbst verursachten, weiterhin zu funktionieren.
    Die »Anpassungsleistungsfähigkeit« zu erhöhen. Weiterhin
    verfügbar zu sein. Nützlich zu sein. Verwertbar zu sein. Es
    war eine Verwertungsgesellschaft. Sterben ist geduldet und
    okay, aber nicht, wenn es der Betreffende selbst will und es
    unplanmäßig und ohne Abstimmung erfolgt. Letztlich sorgt der
    sich ausbreitende »Therapie«-Trend nur
    dafür, dass das Leben für alle immer schlimmer wird. Die
    Selbstentfremdung wird zum Kult erhoben. Die Welt ist
    überfüllt von leidenden Menschen, die sich nicht davon
    abhalten lassen, »ihr« vermeintliches Leben so weiterzuleben
    wie bisher. Solange es nur als »normal« gilt. Medial
    programmierte, sich selbst entfremdete Quälgeister, die sich
    gegenseitig das Leben zur Hölle machen, das ist »die
    Gesellschaft«. Ihre Gehirne sind nur die Abspielgeräte der
    aktuellen Mode, der aktuellen Tagespolitik bzw. der
    Propaganda einer wie auch immer gearteten politischen
    Strömung.

    Die zwei Suizidanten, die Herr Harris kannte, hatten bei all
    ihrer Unterschiedlichkeit etwas gemeinsam. Sie litten nicht
    unbedingt mehr als andere Menschen an und in ihrer Zeit. Sie
    waren nur nicht bereit, das Ausmaß des Leids, mit dem sie
    konfrontiert waren, weiter zu ertragen. Bei beiden spielten
    zudem gesundheitliche Faktoren eine Rolle. Sie waren jedoch
    unendlich klarer und klüger gewesen als Herr Harris selbst.
    Sie hatten schon in jungem Alter begriffen, worauf ihre
    Situation hinauslief. Harris dagegen hatte, das sickerte
    immer deutlicher in sein Bewusstsein, inzwischen den besten
    Moment für ein gutes Ende verpasst. Er war alt geworden. Was
    er wollte, hatte er nicht erreicht und selbst die
    Wünschbarkeit seiner Wünsche und Träume wurden durch alles,
    was ihn umgab und mit ihm interagierte, verneint. Deutlich
    und vehement verneint. So dass er sich fragte, wo denn diese
    Wünsche und Träume eigentlich herkommen, wenn nicht aus
    dieser wirklichen Welt. Was hat das in ihn eingepflanzt. Wie
    kann man Durst haben, in einer Welt, die die Idee von Wasser
    nicht kennt und alles damit zusammenhängende ablehnt?

    Vielmehr als von der »Therapie«, welche sich in der letzten
    Zeit dem Modethema »Resilienz« widmete, profitierte er von
    Ansätzen, die die klassischen Religionen schon Jahrhunderte
    früher einsetzten. Religion sei Opium für’s Volk heißt es
    bei Karl Marx. Sicher, aber das Opium hilft lediglich
    unangenehme Umstände auszuhalten. Es ist nicht die Ursache
    der unangenehmen Umstände. So wie die Scheuklappen, die man
    einem Ackergaul verpasst, ja dessen Leid lindern sollen, und
    daher wahrscheinlich das einzig humane an seiner Situation
    sind. Und ein Ackergaul mit Scheuklappen ist einem Ackergaul
    ohne Scheuklappen klar überlegen.

    Die Resilienzmethoden der
    klassischen Religionen sind die verschiedenen
    Meditationsformen. Auch die Therapeutik hat dies für sich
    entdeckt, nur eben in verwässerter Form. Dem Denken, der
    Logik, nicht mehr die dominierende Rolle im Leben
    einzuräumen, wurde zum Schlüssel des Überlebens. Überleben
    in einer Welt, in der Denken, Fühlen und Handeln der meisten
    Menschen völlig entkoppelt war. In der die medial
    propagierte Mode ein Bürgertum hervorbrachte, das ein
    unendliches Vergnügen an einem Leben in Widersprüchen
    empfand. Die neuen Religionssurrogate, wie die »Therapie«,
    hatten sehr ähnliche Konzepte: die Selbstaufgabe, das
    Aufgehen im Jetzt, die Auflösung des Individuums, das »sich
    Fügen« oder »Aufgeben« in die Gegebenheiten. Dies alles
    hatte einen authentischen und »unpolitischen«, wahren Kern.
    Nur wie alles mit Potential, konnte auch der Missbrauch
    nicht weit sein, und die Versuchung das alles zu nutzen, um
    noch das letzte Quäntchen Energie aus den Lohnsklaven heraus
    zu kitzeln, ihn zustandslos zu machen, universell
    platzierbar und dirigierbar und in jeglicher Dimension
    austauschbar. Jeder sollte mindestens ein digitales
    Duplikat haben. Das Innenleben, alle Geheimnisse, bei Bedarf
    zugreifbar durch die diversen Autoritäten. Und jeder
    Therapeut, jeder zeitgenössische Fernsehphilosoph dieses
    Landes begrüßte dies und konnte getrost als Apologet der
    Konformität bezeichnet werden.
    »Sei ein guter Sklave. Sei ein braver Sklave. Sei ein
    bess’rer Sklave als die ganzen andern Schafe!«

    Dies dachte er, während die Therapeutin ihn leicht genervt
    die »Hausaufgaben«liste für die nächste Woche mitteilte.
    »Herr Harris, sehen sie mich doch gefälligst an, wenn ich
    mit ihnen rede. Sie sind doch kein Kind. Man muss sich doch
    entwickeln. Die anderen Leute können das doch auch. Ich
    komme mir vor, als erkläre ich einem Vierjährigen, warum er
    sich die Zähne putzen soll.«

    Er fasste sie nur kurz wieder ins Auge, um gleich wieder
    weg zu driften. »Sich entwickeln«, war für Herr Harris ein
    Euphemismus für »sich zurück nehmen«. Dafür, sein
    marionettenhaftes Dasein nicht nur zu akzeptieren, sondern
    zu bejahen, ihm zu applaudieren – dem Puppenspieler zu
    applaudieren, der sich eigentlich selbst, mittels der Puppe,
    applaudiert. So wie es alle anderen Leute machen. Eine Frau
    finden, sie für sich gewinnen, indem man unter endloser
    Mühsal mehr Ressourcen anhäuft, als die andern feigen
    Knechte. Hässliche Kinder in eine hässliche Welt zu setzen
    und das in einem hässlichen, unendlichen Kreislauf. Als Mann
    hatte man lediglich die Bestimmung, um als Dünger von den
    übrigen Gewächsen im sozialen Treibhaus verbraucht zu
    werden. In dieser und anderer Hinsicht hatte sein Weltbild
    zu der des Max tatsächlich eine frappierende Ähnlichkeit.
    Nur im Gegensatz zu Max hatte die Erfahrung dieses Weltbild
    für Herrn Harris felsenfest untermauert.

    Die Therapeutin dagegen dachte: »Alter Trantütentyp, keiner
    hat dich lieb.«. Dabei betextete sie ihn weiter mit
    monotonen Beanstandungen über sein Verhalten. Herr Harris
    hörte dem Klang ihrer Stimme eine ganze Weile zu und danach
    ein klatschendes Geräusch und sah dann in zwei verdutzte
    Therapeutinnenaugen. War er das gerade gewesen? War das
    seine Hand, die, als er noch aus dem Fenster sah, in einer
    blitzschnellen Bewegung, wie losgelöst vom Rest seines
    Körpers, das Gesicht der Therapeutin suchte und auch fand?
    Er sah erschrocken in ihr Gesicht. Sah auf seine Faust. Und
    sah wieder in ihr Gesicht.

    Noch nie hatte er gegen irgendeinen Menschen die Hand
    erhoben. Sein Leben war immer die pure Ethik gewesen. Er war
    keine Quelle von Gewalt. Er war, das wurde ihm soeben
    bewusst, eine Gewaltsenke, sein Leben lang. Sein Leben lang
    floss jeder Nachteil einer Übervorteilung, jeder
    ausgespielten Überlegenheit einer Situation immer in seine
    Richtung. Wie der Abfluss in einer Badewanne, erzeugte er
    einen Sog, der alle überschießende Macht und einhergehenden
    Machtmissbrauch um ihn rotieren und bei ihm abfließen ließ.

    Wer nach den Regeln spielt, ohne Einfluss auf sie zu haben,
    verliert. Durch sein vermeintlich ethisches Verhalten machte
    er nur den Raum frei, für die Antiethik der anderen, die sie
    Ethik nannten, weil sie ihnen nutzte.
    Seine Ethik erzeugte
    ein Vakuum, das sofort wieder von der Bosheit der Welt
    aufgefüllt wurde.
    Und als die Therapeutin wieder Luft holte,
    um etwas zu sagen, verpasste er ihr wieder einen Haken.
    Diesmal besann sie sich schnell und stürzte sofort aus dem
    Zimmer.

    Das war es also. Das war die Lösung. Der Faktor, der die
    gesamte Gleichung stimmig machte und in Einklang brachte.
    Warum war er da nicht zwanzig Jahre früher drauf gekommen.
    Welch ein Gefühl. Welch eine Zeitenwende. Er hielt die
    Faust, den Arm weiterhin angewinkelt, in Schulterhöhe, als
    er auf die Straße ging. So wie ein Bodybuilder, der prahlend
    seinen Bizeps zur Schau trägt. Aber Herr Harris hatte keine
    sonderlich ausgeprägt muskulösen Oberarme, er war ein
    schmächtiger Angestellter und kein Metzger. Seine
    unterdrückte, beklemmende, ihn blockierende Wut, die sich
    zuweilen anfühlte wie ein sehr realer körperlicher Schmerz,
    eine Wut, die er nicht haben wollte und trotzdem fühlte,
    verwandelte sich in eine aktive, befreiende, ja fast schon
    fröhliche Gewalttätigkeit.

    Auf dem Nachhauseweg gab er bei jeder passenden Gelegenheit,
    jedem eine auf die Zwölf: Der trödelnden Rentnerin, die bei
    Grün an der Ampel stand, den hassgesichtigen Studentinnen,
    die ihn herablassend anblickten, dem Terrier des
    Bratwurstverkäufers, dem Bratwurstverkäufer, einem Mädchen
    mit Dutt, nur so zum Spaß. Als er zu Hause ankam, sah er
    nach Eintritt zum Treppenhaus schon die informierten
    Uniformierten auf der Etage, wo sich seine Wohnung befand.
    Den Geräuschen nach, befanden sie sich anscheinend in heller
    Aufregung. Also kehrte er stante pede um.

    Der Sommer war vorbei und es wurde schon wieder kälter in
    der Stadt. Herr Harris wusste nicht, wo er bleiben sollte,
    also machte er es sich irgendwann unter einer Brücke am
    Kanal bequem. Überall lag nasses Laub. Der leicht scharfe
    Geruch einsetzenden Moderns umgab ihn. Die Kälte versetzte
    ihn zusätzlich in einen Zustand gespannter Aufmerksamkeit.
    Er zweifelte. Sein Gewissen redete ihm zu. »Das war nicht
    richtig. Was hast Du da nur gemacht. Hast Du kein Mitleid.
    Wenigstens das arme Mädchen mit dem Dutt war doch
    unschuldig.« Er hielt inne. Nachdem er seinen Gedanken eine
    Weile zugehört hatte, fingen sie an ihn zu empören.
    »Unschuldig?! Niemand ist unschuldig. Bist Du, ›das
    Gewissen‹, unschuldig? Was hast Du schon für Schaden
    angerichtet mit deiner verfolgenden ›Unschuld‹. Ohne Dich
    und das Mitleid säße ich erst gar nicht hier.« Und er hatte
    Recht. Zumal das Mädchen mit dem Dutt der Neonazikolonie
    »Neutotonia« angehörte, die Studentinnen Jura studierten
    (und die Anzahl der Juristen in einem Land sich nachweislich
    umgekehrt proportional auf das BIP und Glück eines Landes
    auswirkt), der Bratwurstverkäufer Dinge in die Bratwurst
    tat, die da mit Sicherheit nicht hinein gehören, einzig
    seinen Hund konnte man unschuldig nennen, aber all das
    wusste Harris ebenfalls nicht.

    Gegen Abend erwachte er fröstelnd und merkte, dass er nicht
    allein war. Dieser Platz unter der Brücke war schon das
    Zuhause der Berufsprostituierten Ursula Z., die gerade Feuer
    in einer großen Metalltonne machte. Sie zog diese
    Lebensweise vor, trotz dessen, dass sie es in nur kurzer
    Zeit zu einem nicht unerheblichen finanziellen Wohlstand
    gebracht hatte.

    Sie sah den fröstelnden Mann und hängte ihm eine
    Kamelhaarkutte um. »Wie heißt Du?« frug sie, worauf er
    seinen Namen nannte. »So ist heute dein Geburtstag. Ich
    taufe Dich auf den Namen Kamelhaar-Harris. Und Du sollst nun
    mein Lude sein, und mich schützen vor Ärger, ob groß, ob
    klein. Diese Kutte gehörte meinem letzten Luden, der mit
    einer Flinte zur Messerstecherei ging – und verlor.« Die
    Kutte sah etwas aus der Zeit gefallen aus. Die Innentasche
    auf der linken Seite hatte eine Tiefe, um bequem einen
    kleinen Regenschirm oder auch eine abgesägte Schrotflinte
    aufnehmen zu können. Und tatsächlich lugte aus ihr der Griff
    einer doppelläufigen »Ithaca Auto & Burglar« hervor. Er
    wollte aufstehen und gehen, doch Ursula hielt ihn zurück:
    »Kamelhaar-Harris, bleib erstmal hier im Untergrund. Dort
    bei diesen ‹Menschen› hast Du ein Mensch zu sein verlernt.
    Bleib eine Weile hier, es wird dir gut tun.«

    Kamelhaar-Harris lächelte. Er sah mit der Kutte ein wenig so
    aus wie eine Mischung aus Johnny Depp in »Dead Man« und
    einem Orang Utan. Zum ersten mal, seit langer Zeit,
    vielleicht zum ersten mal überhaupt, war er wirklich
    glücklich. Er kehrte Heim. Leichtes Fieber ergriff ihn. Er
    nickte erneut kurz ein. Als er erwachte sah er, mit halb
    geöffneten Augen, Ursula geduckt und schnell
    periodisch in die Hände klatschend, auf einen Schatten in
    seiner Nähe zugehen und hörte, wie sie rief »Hund ohne
    Namen, geh nach Hause. Jemand wartet auf Dich.« Und das tat
    er auch. Der Hund.

    Max erreichte um 03:47, durchaus noch betrunken, das Haus in
    dem sich seine Wohnung befand. Als er die Haustür
    unkoordiniert aufschloss, den Schlüsselbund ließ er unter
    beachtlicher Geräuschentwicklung vorher mehrmals fallen, und
    sich anschickte, sie zu durchschreiten, drängte sich der
    Hund, aus der Dunkelheit kommend, abermals an ihm vorbei,
    auf die gleiche Weise wie er vormals entwischte.

    Marie hatte nicht geschlafen. Durch die Geräusche im
    Treppenhaus alarmiert, kam sie ihnen schon entgegen. Sie
    fiel auf die Knie und dem Hund um den Hals: »Oh, wie ich
    dich vermisst habe. Bleib nie wieder so lange fort. Ich habe
    mir solche Sorgen gemacht. Ich liebe dich so sehr.« Dabei
    wuselte sie unaufhörlich an seinem Hundekopf herum. Als Max
    sich räusperte, brauchte sie zwei lange Sekunden, um sich zu
    fangen und ihn zu orten, visierte ihn dann aber mit dem
    Zeigefinger an und sprach: »Tu das nie wieder!«, dann setzte
    sie das Geknuddel des Hundes fort. Plötzlich hielt sie inne.
    Sie hatte die Stelle mit dem halb verheilten Zeckenbiss
    entdeckt, die sich leicht entzündet hatte. »Max, das erste
    was Du morgen machst, ist mit dem Hund zum Tierarzt gehen.«
    Max wollte widersprechen. Er selbst plagte sich seit Wochen
    mit seltsamen Schmerzen im Unterbauch, doch die
    Arbeitssituation ließ keinen Arztbesuch zu. Hinzu kam, dass
    die Kassenärzte oder vor allem die Kassenärztinnen
    irgendwann beschlossen hatten, wenn überhaupt, nur noch
    halbtags zu öffnen und das zu Zeiten, in denen auf Arbeit
    die Hölle tobte und er unabkömmlich war. Er hatte seine
    Hausärztin bisher nur zweimal gesehen. Den Füllstand des
    Warteraums fand er damals beklemmend. Mehrheitlich alte
    Frauen. »Sie verstopfen die Wartezimmer, wie das Cholesterin
    ihre Blutgefäße.« dachte er damals. Er wartete vier Stunden
    für eine Untersuchung, Diagnose und ein ausgestelltes
    Rezept, was letztlich nur 15 Minuten in Anspruch nahm, als
    er endlich an die Reihe kam. Dabei gab es ein einfaches
    Prinzip, was im Supermarkt oftmals befolgt wird. Die
    Kassiererin hatte ihm erklärt, dass denjenigen vorlassen,
    der absehbar nur geringe Zeit benötigt, zwar nicht die
    Arbeitszeit der Kassiererin verringert, jedoch die
    durchschnittliche Wartezeit der Kunden. Zudem die Behandlung
    des Patienten wie ein Bittsteller im öffentlichen
    Gesundheitssystem. So als würde das alles ihm nichts kosten.
    Von dem Geld, was er jetzt allein an Krankenkassenbeitrag
    zahlte, hatte er früher einen Monat überleben können. Aber
    die Anweisung den Tierarzt zu besuchen, brachte ihn auf eine
    Idee …

      • Es ist spannend auszutesten, wie lang so ein Kommentar werden kann. Die Grenze ist noch nicht erreicht.

          • Es werden angeblich mehr Bücher geschrieben als gelesen.
            Hier weiß ich, dass wenigstens 7 Worte davon gelesen werden.
            Je nachdem, ob das Konzept weiter verfolgt wird, müsste ich es sonst in einen eigenen Blog tun.
            Aber dann ginge es schon über das spielerische Element hinaus, was auch Schade wäre.

          • Ein neuer Blog ist total oldschool. Also eine gute Sache.
            Laut Statistik liest das hier übrigens kaum jemand. Blogs sind nämlich sowieso out. 🤷‍♂️😃

          • Ich würde die Abschnitte dann unter dem – seit einer Weile nicht mehr fortgeführten – Blog sammeln:

            https://gedankenwerk.wordpress.com/zerstorer-von-welten/
            Allerdings mit Passwort versehen: „7am7ten“

            Falls die 7am7ten Reihe im neuen Jahr fortgesetzt wird und meine Kräfte nicht anderweitig komplett gebunden werden.
            Kann allerdings auch sein, dass mir die Monatsfrist zu lang wird und ich unterdessen schon Abschnitte zwischendurch fülle.

          • So viele schwierige Fragen. Ich sage mal aus Sicherheitsgründen wird der Blog nicht mehr fortgeführt und das ist gut so.
            Totgeschlagene leben länger – oder so ähnlich.
            Da die Seiten für das »Buch« ein immerwährendes Provisorium sind, wäre es schade, wenn die Suchmaschinenroboter das Unvollständige in ihren Suchmaschinenspeicher aufnehmen. Und natürlich kann ich nicht abschätzen, welchen Weg das Projekt noch einschlägt. Allein aus möglichen Jugendschutzgründen setze ich ein Passwort davor und gut ist.

          • Klingt wie ein gefährlicher Blog im Ruhestand.

            Ich bin gespannt, was aus dem Projekt wird.

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