Die 7 Wörter lauten:
Akzeptieren – Schwer – Pillendose – Zukunftsorientiert – Auge – Metzger – Fangen
Metzger ist sein Beruf und er hielt sich für zukunftsorientiert, doch eine Zukunft hat er schon lange nicht mehr. Heute fällt ihm das Leben nur noch schwer. Seine Tochter, die ein Buch schreiben wollte, mit der er früher Fangen gespielt hat, bevor sie sich mehr und mehr veränderte, lebt nicht mehr. Wie soll er je akzeptieren, dass sie tot ist? Wieso hat er es nicht verhindert? Oft sagte er, als seine Tochter noch lebte, dass er ein Auge geben würde, nur um sie von ihrer Sucht zu befreien. Er hat es aber nicht getan, es hätte vermutlich auch nichts geändert. In der Hand hält er die Pillendose seiner Tochter. In der Pillendose liegt ein Auge. Sein rechtes Auge. Es ist zu groß für die Dose, doch alles ist egal, wenn die eigene Tochter vor einem stirbt und man sich schuldig fühlt, weil man es nicht verhindert hat.
Vielleicht sollten wir einen Contest für lebensbejahende Lyrik starten 🙂
Ja, es muss mehr Positives in Umlauf gebracht werden.
Mal sehen, was die Jahresumfragen dazu sagen…
Die Fortsetzung…
Als Kamelhaar-Harris noch nicht »Kamelhaar-Harris«, sondern
nur »Herr Harris« hieß, war er ein unauffälliger
Angestellter mittleren Alters. Das einzige Auffällige an
ihm: Er ging seit 25 Jahren zur Psychotherapie. Dies tat er
ohne je das Gefühl zu haben, dass sich sein Leben dadurch
verbesserte. Und warum ging er da eigentlich hin?
Weil er sich permanent vom Leben überfordert fühlte. Auf dem
Gefühl, nicht in diese Welt zu passen, blieb er hängen.
Ein Gefühl, dass ihn schon seit seiner Jugend begleitete. Dies
und andere »Stachel« und Komplexe bildeten das Einfallstor
mit dem man ihn vom Leben abhalten konnte und auch
erfolgreich abhielt.
Er konnte seine Situation weder akzeptieren, noch
daran etwas ändern.
Die Therapeutin hätte sich von dem Geld, dass sie allein
durch die Sitzungen mit ihm verdiente, inzwischen ein
Ferienhaus in Spanien kaufen können. Herr Harris wurde durch
die regelmäßigen, zum Ritual gewordenen, Therapiestunden, so
ihre Meinung, geerdet und verursachte damit anderen Menschen
keine größeren Befindlichkeiten.
Herr Harris fuhr meist mit dem ÖPNV von der Arbeit in die
Praxis zur »Therapie«. Er fragte sich, ob nicht auch das
häufige Hören des Satzes »Zurück bleiben bitte!«, welcher
gerade wieder blechern aus einem Lautsprecher tönte, eine
Mitschuld daran trug, dass er, wie er fühlte, im Leben
insgesamt etwas zurück geblieben war. Er dachte, die
Umstände bedingten sich gegenseitig. Einerseits hielt ihn
der ÖPNV zurück, andererseits, so folgerte er aus seinen
Beobachtungen, stellte der ÖPNV die häufigste Mobilitätsform
der Zurückgebliebenen dar. Hier fanden sich die aus der
Gesellschaft eigentlich ausgeschiedenen. Die verarmten
Pensionäre, sowie diejenigen, die kein Fahrzeug mehr führen
konnten oder durften. Hier nahm man Teil an den
soziologischen Experimenten und Menschenversuchen. Hier
rekrutierte sich die Verfügungsmasse mit der eine zentrale
Steuerinstanz ganz nach Belieben ver-fahren konnte. Wenn
Kinder sich unflätig benehmen, so werden sie von den
schlechteren Erziehungsberechtigten auf die »stille Treppe«
gesetzt, in die Ecke, herausgenommen aus ihrer Autonomie –
so wie es auch die Bestrafung von Erwachsenen vorsieht. Man
nimmt ihnen das wertvollste, was sie haben: die
Verfügbarkeit über ihre Lebenszeit.
Schon wieder musste er aufgrund eines »Polizeieinsatzes«
länger warten, in der Kälte. Er wusste nicht, dass sich
hinter diesen »Polizeieinsätzen« keine wirklichen Amokläufe
oder andere gewichtige Gründe verbargen. Oftmals ging es um
Geringfügigkeiten, wie dass eine Irmgard genannte Polizistin
ihre Waffe nicht finden konnte und glaubte, sie habe sie in
der S-Bahn liegen lassen. Also wurde das Ding angehalten und
durchsucht. Manchmal hielten die Polizisten die S-Bahn auch
nur an, um sich über die, Zitat, »dummen Gesichter« der
Fahrgäste in den Kameras zu beeumeln.
Bei der ganzen Warterei, dem durch die Ausfälle
hochgeputschten Füllstand der Abteile und der in der Folge
schwer gereizten Stimmung der Insassen hielt es Herr Harris
für nicht unplausibel, dass da mal jemand wirklich austickt.
Vielleicht hatte sich wieder einer vor den Zug geworfen.
»Sie propagieren sich selbst«, dachte er. Der Suizident, der
sich vor den Zug wirft, stresst hunderte, vielleicht
tausende Menschen in der Folge, von denen sich
wahrscheinlich dann dadurch wieder einige vor den Zug
werfen. Ein endloser suizidaler Kreislauf. »The Circle of
Death«. Und doch wurden es immer mehr und nicht weniger
Fahrgäste. Wo kamen die alle her, wo wollten die alle hin?
Wenn Herr Harris mit dem ÖPNV in die Praxis zur »Therapie«
fuhr, filmten ihn dutzende Kameras. Irgendwann hatte man
angefangen das gesamte Leben in einen Raum zu verwandeln,
der verstärkt die technologische Ausstattung hatte, wie
früher der Hochsicherheitstrakt von Gefängnissen.
Elektronische Fußfessel inklusive, nur dass man die
gewöhnlich in der Hand hielt und verniedlichend »Handy«
nannte. Er sah in seinem Abteil, wie die Mehrheit der
Insassen ihre Handies streichelten.
Herr Harris nannte die Summe an Überwachungsmaßnahmen einen
»Misstrauensvorschuss«. Niemand konnte sagen, wer das alles
eigentlich bestimmt und installiert hatte. Er jedenfalls
führte sein Leben irgendwann so, dass die Totalüberwachung
keine Rolle mehr für ihn spielte. Allerdings nicht in der
Weise, wie die meisten, dass er sich konformer verhielt,
sondern indem er Beziehungen vermied und stets darauf
bedacht war, die Anzahl der Bindungen, die er unterhielt, zu
minimieren. Wie Zootiere oder allgemein in Gefangenschaft
gehaltene Tiere, verlor er seinen natürlichen Kompass. Alles
wurde erzwungenermaßen immer »sozialer«. Wobei mit »sozial«
gemeint ist, was irgendwem Arbeit schafft und einem selbst
Arbeit und Umstände macht. Die gegenseitige Verstrickung
aller Lebensbereiche trieb man weiter voran. Klassische
Sphären vermischten sich. Intimität zwischen Menschen
verunmöglichte schon der Umstand, dass ein Großteil der
Kommunikation indirekter wurde. Immer gab es mindestens
einen, wenn auch »transparenten«, dritten Vermittler.
Überall wurde etwas dazwischen geschaltet. Ging man
beispielsweise zum Arzt, so machte man nicht mehr nur einen
Termin mit diesem, sondern die Termine wurden über eine App,
also einen weiteren Akteur organisiert. Für die Ausstellung
eines vom Patienten einsehbaren Rezepts kamen noch ein
Authentifizierungsdienstleister, eine Krankenkassenapp und
eine Ausweisapp mit ins Spiel, wo früher nur ein Stück
Papier und ein Arzt und ein Apotheker genügten, um zu seiner
Pillendose zu gelangen.
Der Schöpfer all der Überwachungsarchitekturen, so dachte
Herr Harris, musste antizipieren, damit rechnen, dass die
Menschen sich auflehnend verhalten würden, bei dem, was mit
ihnen anzustellen man vorhatte und dass sie folglich
überwacht werden müssen. Damit lag in diesem
»Misstrauensvorschuss« auch eine verborgene Empfehlung
dessen, was die damit belegten eigentlich hätten tun müssen.
Doch der große Widerstand blieb aus. Man terrorisierte alles
und jeden und alle sich gegenseitig, nur gegen eines lehnte
sich niemand auf: die Obrigkeit. Wozu auch? In der DDR
arbeiteten mehr als 150.000 Menschen direkt oder indirekt
für die Staatssicherheit, ca. 1 % der Bevölkerung. Wieviele
Menschen arbeiteten jetzt direkt oder indirekt für
staatliche oder halbstaatliche Unternehmen? Letztlich
partizipierten wahrscheinlich mehr als 60 % von der
Situation wie sie ist. Also ist es schon irgendwie
demokratisch.
Man schuf Verhältnisse im öffentlichem Raum, die dafür
sorgten, dass sich die Menschen gegenseitig maximal
bedrängten. Eine feindselige Gestaltung der gemeinschaftlich
genutzten Bereiche hatte den Zweck subtil die
Aufenthaltsdauer in diesem Bereich zu reduzieren. Außerdem
vergrößerte sich die Bevölkerung anscheinend immer weiter.
Die S-Bahn nannte Harris, »Seuchen-Bahn«. Wenn er das
Gedrängel betrat und sich an den Menschen dort vorbei presste,
erschien es ihm wie ein Minenfeld. Jeder zweite Passagier
nieste oder hustete in seine Richtung, just in dem Moment,
da Herr Harris in die Nähe desselben kam. Menschen als durch
Nähe ausgelöste Abnies- und Abhustminen, ein ganzer Wagon
voll davon. Sie schienen sich auch gegenseitig auszulösen.
Wie eine Laola-Welle wogte das Geniese und Gehuste in den
Abteilen hin und her. Kein Wunder dass er ständig kränkelte.
In letzter Zeit hatte er oft starke Kopfschmerzen und ihm
war übel. Anscheinend ging es nicht nur ihm so mit der
Übelkeit. Obwohl sich alle Menschen im Wagon wie Sardinen
drängten, gab es ein freies Viererabteil, wo niemand stand
und eine unsichtbare Wand die Passagiere fernzuhalten
schien. Herr Harris ahnte, warum sich niemand dort hinsetzen
wollte, doch er musste sich Gewissheit verschaffen. Er
brauchte sich gar nicht viel zu verrenken, um das Ausmaß des
Erbrechens ermessen zu können. Den gesamten
Viersitzerbereich samt Boden bedeckte eine Schicht von
Auswurf undefinierbarer Zusammensetzung. Kein einzelner
normaler Mensch hätte dies produzieren können oder nur
jemand mit einem außergewöhnlich dehnbaren Magen. Die
plausibelste Erklärung schien, dass sich hier Menschen einer
Gruppe gegenseitig zum Erbrechen inspirierten. Also
nichts wie weg da und zurück ins Gedrängel, denn »die Würde
des Menschen ist unzerquetschbar«. Dieses Verkehrsmittel
konnte nicht zukunftsorientiert sein. Zumindest nicht in
Bezug auf seine Zukunft.
Harris war eigentlich ein empathischer und von seinem
Naturell her, im ursprünglichen Sinn, sozialer Mensch.
Vieles hätte er verstanden, wenn man es ihm nicht extra und
wiederholend erklärt hätte. Seine täglichen Wege waren von
Werbetransparenten gepflastert. Die klassische kommerzielle
Werbung hatte man im öffentlichen Raum irgendwann zurück
gedrängt, an ihrer Stelle hatten sich dafür vermehrt
aktivistische Benimm-dich-Regeln oder Ersatzreligiöse
Mantras oder auch einfach nur Grußbotschaften von der
Regierung eingefunden.
Herr Harris verhielt sich instinktiv so, dass er die
Erwartungen, die im Alltag an ihn gestellt wurden, erfüllte.
Dies erwies sich nur mehr und mehr als verhängnisvoll. Die
Idee des allem mitschwingenden »Misstrauensvorschuss« hatte
sich in sein Hirn gebrannt. Und Harris hatte sich im Leben
so zuverlässig verrannt, dass er ohne eine höhere Fügung, da
allein nie wieder heraus gefunden hätte. Alles, was ihn
vermeintlich näher an eine »Lösung« seiner gravierendsten
Probleme heranzubringen schien, entpuppte sich als ein
Abomodell vermeintlicher »Helfer« auf zusätzliche neue
Probleme. »Sein« Leben hatte schon lange aufgehört, sein
Leben zu sein. Ein Spielball in einem Flipperautomaten, das
war er. Er durfte machen, was er wollte, solange er den
Flipper und seine Laufbahn nicht verließ. Die Illusion von
Freiheit, die durch die Geschwindigkeit und den Ortswechsel
entsteht, hielt ihn behelfsmäßig am Leben. Auch die andern
Menschen nutzten diesen Effekt ausgiebig und verreisten bei
jeder Gelegenheit am besten ganz weit weg. Die Reisefreiheit
bezahlte man damit, dass man nirgendwo mehr richtig wohnen
und Zuhause sein konnte. Aus der Reisefreiheit wurde durch
die beruflichen Gegebenheiten eine Reisepflicht. Die
Entfernungen, die für den Berufsalltag zurückgelegt wurden,
nahmen immer größere Ausmaße an.
Herr Harris saß später in der Praxis, so wie immer, auf
einem unbequemen Plastikstuhl, an einem Tisch von unbequem
niedriger Höhe. Doch diesmal schweifte sein Blick aus dem
Fenster. Wolken, die die Sonne bedeckt hatten, gaben sie
wieder frei und es war ein außergewöhnliches Licht, wie man
es nur in den Übergangsjahreszeiten sehen kann. Die
unbelebte Natur hob sich in ihrer Buntheit und Dynamik
derartig von der belebten ab, dass der Kontrast geradezu
komisch wirkte. Pink-rote Wolken, die einen gelb-blauen
Himmel durchzogen.
Er verlor sich weiter in Gedanken.
In den letzten 25 Jahren hatten sich zwei Menschen in seinem
Bekanntenkreis das Leben genommen. Ihm war plötzlich klar,
dass es in einer »Therapie« gar nicht darum geht, die
Lebensqualität zu steigern. Oder das Leiden am Leben zu
reduzieren. Sondern viel mehr, mit dem Leiden, welches das
Leben, ja, eigentlich doch viel eher die »Gesellschaft« und
die »Sitte« selbst verursachten, weiterhin zu funktionieren.
Die »Anpassungsleistungsfähigkeit« zu erhöhen. Weiterhin
verfügbar zu sein. Nützlich zu sein. Verwertbar zu sein. Es
war eine Verwertungsgesellschaft. Sterben ist geduldet und
okay, aber nicht, wenn es der Betreffende selbst will und es
unplanmäßig und ohne Abstimmung erfolgt. Letztlich sorgt der
sich ausbreitende »Therapie«-Trend nur
dafür, dass das Leben für alle immer schlimmer wird. Die
Selbstentfremdung wird zum Kult erhoben. Die Welt ist
überfüllt von leidenden Menschen, die sich nicht davon
abhalten lassen, »ihr« vermeintliches Leben so weiterzuleben
wie bisher. Solange es nur als »normal« gilt. Medial
programmierte, sich selbst entfremdete Quälgeister, die sich
gegenseitig das Leben zur Hölle machen, das ist »die
Gesellschaft«. Ihre Gehirne sind nur die Abspielgeräte der
aktuellen Mode, der aktuellen Tagespolitik bzw. der
Propaganda einer wie auch immer gearteten politischen
Strömung.
Die zwei Suizidanten, die Herr Harris kannte, hatten bei all
ihrer Unterschiedlichkeit etwas gemeinsam. Sie litten nicht
unbedingt mehr als andere Menschen an und in ihrer Zeit. Sie
waren nur nicht bereit, das Ausmaß des Leids, mit dem sie
konfrontiert waren, weiter zu ertragen. Bei beiden spielten
zudem gesundheitliche Faktoren eine Rolle. Sie waren jedoch
unendlich klarer und klüger gewesen als Herr Harris selbst.
Sie hatten schon in jungem Alter begriffen, worauf ihre
Situation hinauslief. Harris dagegen hatte, das sickerte
immer deutlicher in sein Bewusstsein, inzwischen den besten
Moment für ein gutes Ende verpasst. Er war alt geworden. Was
er wollte, hatte er nicht erreicht und selbst die
Wünschbarkeit seiner Wünsche und Träume wurden durch alles,
was ihn umgab und mit ihm interagierte, verneint. Deutlich
und vehement verneint. So dass er sich fragte, wo denn diese
Wünsche und Träume eigentlich herkommen, wenn nicht aus
dieser wirklichen Welt. Was hat das in ihn eingepflanzt. Wie
kann man Durst haben, in einer Welt, die die Idee von Wasser
nicht kennt und alles damit zusammenhängende ablehnt?
Vielmehr als von der »Therapie«, welche sich in der letzten
Zeit dem Modethema »Resilienz« widmete, profitierte er von
Ansätzen, die die klassischen Religionen schon Jahrhunderte
früher einsetzten. Religion sei Opium für’s Volk heißt es
bei Karl Marx. Sicher, aber das Opium hilft lediglich
unangenehme Umstände auszuhalten. Es ist nicht die Ursache
der unangenehmen Umstände. So wie die Scheuklappen, die man
einem Ackergaul verpasst, ja dessen Leid lindern sollen, und
daher wahrscheinlich das einzig humane an seiner Situation
sind. Und ein Ackergaul mit Scheuklappen ist einem Ackergaul
ohne Scheuklappen klar überlegen.
Die Resilienzmethoden der
klassischen Religionen sind die verschiedenen
Meditationsformen. Auch die Therapeutik hat dies für sich
entdeckt, nur eben in verwässerter Form. Dem Denken, der
Logik, nicht mehr die dominierende Rolle im Leben
einzuräumen, wurde zum Schlüssel des Überlebens. Überleben
in einer Welt, in der Denken, Fühlen und Handeln der meisten
Menschen völlig entkoppelt war. In der die medial
propagierte Mode ein Bürgertum hervorbrachte, das ein
unendliches Vergnügen an einem Leben in Widersprüchen
empfand. Die neuen Religionssurrogate, wie die »Therapie«,
hatten sehr ähnliche Konzepte: die Selbstaufgabe, das
Aufgehen im Jetzt, die Auflösung des Individuums, das »sich
Fügen« oder »Aufgeben« in die Gegebenheiten. Dies alles
hatte einen authentischen und »unpolitischen«, wahren Kern.
Nur wie alles mit Potential, konnte auch der Missbrauch
nicht weit sein, und die Versuchung das alles zu nutzen, um
noch das letzte Quäntchen Energie aus den Lohnsklaven heraus
zu kitzeln, ihn zustandslos zu machen, universell
platzierbar und dirigierbar und in jeglicher Dimension
austauschbar. Jeder sollte mindestens ein digitales
Duplikat haben. Das Innenleben, alle Geheimnisse, bei Bedarf
zugreifbar durch die diversen Autoritäten. Und jeder
Therapeut, jeder zeitgenössische Fernsehphilosoph dieses
Landes begrüßte dies und konnte getrost als Apologet der
Konformität bezeichnet werden.
»Sei ein guter Sklave. Sei ein braver Sklave. Sei ein
bess’rer Sklave als die ganzen andern Schafe!«
Dies dachte er, während die Therapeutin ihn leicht genervt
die »Hausaufgaben«liste für die nächste Woche mitteilte.
»Herr Harris, sehen sie mich doch gefälligst an, wenn ich
mit ihnen rede. Sie sind doch kein Kind. Man muss sich doch
entwickeln. Die anderen Leute können das doch auch. Ich
komme mir vor, als erkläre ich einem Vierjährigen, warum er
sich die Zähne putzen soll.«
Er fasste sie nur kurz wieder ins Auge, um gleich wieder
weg zu driften. »Sich entwickeln«, war für Herr Harris ein
Euphemismus für »sich zurück nehmen«. Dafür, sein
marionettenhaftes Dasein nicht nur zu akzeptieren, sondern
zu bejahen, ihm zu applaudieren – dem Puppenspieler zu
applaudieren, der sich eigentlich selbst, mittels der Puppe,
applaudiert. So wie es alle anderen Leute machen. Eine Frau
finden, sie für sich gewinnen, indem man unter endloser
Mühsal mehr Ressourcen anhäuft, als die andern feigen
Knechte. Hässliche Kinder in eine hässliche Welt zu setzen
und das in einem hässlichen, unendlichen Kreislauf. Als Mann
hatte man lediglich die Bestimmung, um als Dünger von den
übrigen Gewächsen im sozialen Treibhaus verbraucht zu
werden. In dieser und anderer Hinsicht hatte sein Weltbild
zu der des Max tatsächlich eine frappierende Ähnlichkeit.
Nur im Gegensatz zu Max hatte die Erfahrung dieses Weltbild
für Herrn Harris felsenfest untermauert.
Die Therapeutin dagegen dachte: »Alter Trantütentyp, keiner
hat dich lieb.«. Dabei betextete sie ihn weiter mit
monotonen Beanstandungen über sein Verhalten. Herr Harris
hörte dem Klang ihrer Stimme eine ganze Weile zu und danach
ein klatschendes Geräusch und sah dann in zwei verdutzte
Therapeutinnenaugen. War er das gerade gewesen? War das
seine Hand, die, als er noch aus dem Fenster sah, in einer
blitzschnellen Bewegung, wie losgelöst vom Rest seines
Körpers, das Gesicht der Therapeutin suchte und auch fand?
Er sah erschrocken in ihr Gesicht. Sah auf seine Faust. Und
sah wieder in ihr Gesicht.
Noch nie hatte er gegen irgendeinen Menschen die Hand
erhoben. Sein Leben war immer die pure Ethik gewesen. Er war
keine Quelle von Gewalt. Er war, das wurde ihm soeben
bewusst, eine Gewaltsenke, sein Leben lang. Sein Leben lang
floss jeder Nachteil einer Übervorteilung, jeder
ausgespielten Überlegenheit einer Situation immer in seine
Richtung. Wie der Abfluss in einer Badewanne, erzeugte er
einen Sog, der alle überschießende Macht und einhergehenden
Machtmissbrauch um ihn rotieren und bei ihm abfließen ließ.
Wer nach den Regeln spielt, ohne Einfluss auf sie zu haben,
verliert. Durch sein vermeintlich ethisches Verhalten machte
er nur den Raum frei, für die Antiethik der anderen, die sie
Ethik nannten, weil sie ihnen nutzte.
Seine Ethik erzeugte
ein Vakuum, das sofort wieder von der Bosheit der Welt
aufgefüllt wurde.
Und als die Therapeutin wieder Luft holte,
um etwas zu sagen, verpasste er ihr wieder einen Haken.
Diesmal besann sie sich schnell und stürzte sofort aus dem
Zimmer.
Das war es also. Das war die Lösung. Der Faktor, der die
gesamte Gleichung stimmig machte und in Einklang brachte.
Warum war er da nicht zwanzig Jahre früher drauf gekommen.
Welch ein Gefühl. Welch eine Zeitenwende. Er hielt die
Faust, den Arm weiterhin angewinkelt, in Schulterhöhe, als
er auf die Straße ging. So wie ein Bodybuilder, der prahlend
seinen Bizeps zur Schau trägt. Aber Herr Harris hatte keine
sonderlich ausgeprägt muskulösen Oberarme, er war ein
schmächtiger Angestellter und kein Metzger. Seine
unterdrückte, beklemmende, ihn blockierende Wut, die sich
zuweilen anfühlte wie ein sehr realer körperlicher Schmerz,
eine Wut, die er nicht haben wollte und trotzdem fühlte,
verwandelte sich in eine aktive, befreiende, ja fast schon
fröhliche Gewalttätigkeit.
Auf dem Nachhauseweg gab er bei jeder passenden Gelegenheit,
jedem eine auf die Zwölf: Der trödelnden Rentnerin, die bei
Grün an der Ampel stand, den hassgesichtigen Studentinnen,
die ihn herablassend anblickten, dem Terrier des
Bratwurstverkäufers, dem Bratwurstverkäufer, einem Mädchen
mit Dutt, nur so zum Spaß. Als er zu Hause ankam, sah er
nach Eintritt zum Treppenhaus schon die informierten
Uniformierten auf der Etage, wo sich seine Wohnung befand.
Den Geräuschen nach, befanden sie sich anscheinend in heller
Aufregung. Also kehrte er stante pede um.
Der Sommer war vorbei und es wurde schon wieder kälter in
der Stadt. Herr Harris wusste nicht, wo er bleiben sollte,
also machte er es sich irgendwann unter einer Brücke am
Kanal bequem. Überall lag nasses Laub. Der leicht scharfe
Geruch einsetzenden Moderns umgab ihn. Die Kälte versetzte
ihn zusätzlich in einen Zustand gespannter Aufmerksamkeit.
Er zweifelte. Sein Gewissen redete ihm zu. »Das war nicht
richtig. Was hast Du da nur gemacht. Hast Du kein Mitleid.
Wenigstens das arme Mädchen mit dem Dutt war doch
unschuldig.« Er hielt inne. Nachdem er seinen Gedanken eine
Weile zugehört hatte, fingen sie an ihn zu empören.
»Unschuldig?! Niemand ist unschuldig. Bist Du, ›das
Gewissen‹, unschuldig? Was hast Du schon für Schaden
angerichtet mit deiner verfolgenden ›Unschuld‹. Ohne Dich
und das Mitleid säße ich erst gar nicht hier.« Und er hatte
Recht. Zumal das Mädchen mit dem Dutt der Neonazikolonie
»Neutotonia« angehörte, die Studentinnen Jura studierten
(und die Anzahl der Juristen in einem Land sich nachweislich
umgekehrt proportional auf das BIP und Glück eines Landes
auswirkt), der Bratwurstverkäufer Dinge in die Bratwurst
tat, die da mit Sicherheit nicht hinein gehören, einzig
seinen Hund konnte man unschuldig nennen, aber all das
wusste Harris ebenfalls nicht.
Gegen Abend erwachte er fröstelnd und merkte, dass er nicht
allein war. Dieser Platz unter der Brücke war schon das
Zuhause der Berufsprostituierten Ursula Z., die gerade Feuer
in einer großen Metalltonne machte. Sie zog diese
Lebensweise vor, trotz dessen, dass sie es in nur kurzer
Zeit zu einem nicht unerheblichen finanziellen Wohlstand
gebracht hatte.
Sie sah den fröstelnden Mann und hängte ihm eine
Kamelhaarkutte um. »Wie heißt Du?« frug sie, worauf er
seinen Namen nannte. »So ist heute dein Geburtstag. Ich
taufe Dich auf den Namen Kamelhaar-Harris. Und Du sollst nun
mein Lude sein, und mich schützen vor Ärger, ob groß, ob
klein. Diese Kutte gehörte meinem letzten Luden, der mit
einer Flinte zur Messerstecherei ging – und verlor.« Die
Kutte sah etwas aus der Zeit gefallen aus. Die Innentasche
auf der linken Seite hatte eine Tiefe, um bequem einen
kleinen Regenschirm oder auch eine abgesägte Schrotflinte
aufnehmen zu können. Und tatsächlich lugte aus ihr der Griff
einer doppelläufigen »Ithaca Auto & Burglar« hervor. Er
wollte aufstehen und gehen, doch Ursula hielt ihn zurück:
»Kamelhaar-Harris, bleib erstmal hier im Untergrund. Dort
bei diesen ‹Menschen› hast Du ein Mensch zu sein verlernt.
Bleib eine Weile hier, es wird dir gut tun.«
Kamelhaar-Harris lächelte. Er sah mit der Kutte ein wenig so
aus wie eine Mischung aus Johnny Depp in »Dead Man« und
einem Orang Utan. Zum ersten mal, seit langer Zeit,
vielleicht zum ersten mal überhaupt, war er wirklich
glücklich. Er kehrte Heim. Leichtes Fieber ergriff ihn. Er
nickte erneut kurz ein. Als er erwachte sah er, mit halb
geöffneten Augen, Ursula geduckt und schnell
periodisch in die Hände klatschend, auf einen Schatten in
seiner Nähe zugehen und hörte, wie sie rief »Hund ohne
Namen, geh nach Hause. Jemand wartet auf Dich.« Und das tat
er auch. Der Hund.
—
Max erreichte um 03:47, durchaus noch betrunken, das Haus in
dem sich seine Wohnung befand. Als er die Haustür
unkoordiniert aufschloss, den Schlüsselbund ließ er unter
beachtlicher Geräuschentwicklung vorher mehrmals fallen, und
sich anschickte, sie zu durchschreiten, drängte sich der
Hund, aus der Dunkelheit kommend, abermals an ihm vorbei,
auf die gleiche Weise wie er vormals entwischte.
Marie hatte nicht geschlafen. Durch die Geräusche im
Treppenhaus alarmiert, kam sie ihnen schon entgegen. Sie
fiel auf die Knie und dem Hund um den Hals: »Oh, wie ich
dich vermisst habe. Bleib nie wieder so lange fort. Ich habe
mir solche Sorgen gemacht. Ich liebe dich so sehr.« Dabei
wuselte sie unaufhörlich an seinem Hundekopf herum. Als Max
sich räusperte, brauchte sie zwei lange Sekunden, um sich zu
fangen und ihn zu orten, visierte ihn dann aber mit dem
Zeigefinger an und sprach: »Tu das nie wieder!«, dann setzte
sie das Geknuddel des Hundes fort. Plötzlich hielt sie inne.
Sie hatte die Stelle mit dem halb verheilten Zeckenbiss
entdeckt, die sich leicht entzündet hatte. »Max, das erste
was Du morgen machst, ist mit dem Hund zum Tierarzt gehen.«
Max wollte widersprechen. Er selbst plagte sich seit Wochen
mit seltsamen Schmerzen im Unterbauch, doch die
Arbeitssituation ließ keinen Arztbesuch zu. Hinzu kam, dass
die Kassenärzte oder vor allem die Kassenärztinnen
irgendwann beschlossen hatten, wenn überhaupt, nur noch
halbtags zu öffnen und das zu Zeiten, in denen auf Arbeit
die Hölle tobte und er unabkömmlich war. Er hatte seine
Hausärztin bisher nur zweimal gesehen. Den Füllstand des
Warteraums fand er damals beklemmend. Mehrheitlich alte
Frauen. »Sie verstopfen die Wartezimmer, wie das Cholesterin
ihre Blutgefäße.« dachte er damals. Er wartete vier Stunden
für eine Untersuchung, Diagnose und ein ausgestelltes
Rezept, was letztlich nur 15 Minuten in Anspruch nahm, als
er endlich an die Reihe kam. Dabei gab es ein einfaches
Prinzip, was im Supermarkt oftmals befolgt wird. Die
Kassiererin hatte ihm erklärt, dass denjenigen vorlassen,
der absehbar nur geringe Zeit benötigt, zwar nicht die
Arbeitszeit der Kassiererin verringert, jedoch die
durchschnittliche Wartezeit der Kunden. Zudem die Behandlung
des Patienten wie ein Bittsteller im öffentlichen
Gesundheitssystem. So als würde das alles ihm nichts kosten.
Von dem Geld, was er jetzt allein an Krankenkassenbeitrag
zahlte, hatte er früher einen Monat überleben können. Aber
die Anweisung den Tierarzt zu besuchen, brachte ihn auf eine
Idee …
Ich glaube, das ist der längste Kommentar, der weltweit je geschrieben wurde.
Fast ein Buch.
Es ist spannend auszutesten, wie lang so ein Kommentar werden kann. Die Grenze ist noch nicht erreicht.
Vielleicht gibt es auch gar keine Grenze
Es werden angeblich mehr Bücher geschrieben als gelesen.
Hier weiß ich, dass wenigstens 7 Worte davon gelesen werden.
Je nachdem, ob das Konzept weiter verfolgt wird, müsste ich es sonst in einen eigenen Blog tun.
Aber dann ginge es schon über das spielerische Element hinaus, was auch Schade wäre.
Ein neuer Blog ist total oldschool. Also eine gute Sache.
Laut Statistik liest das hier übrigens kaum jemand. Blogs sind nämlich sowieso out. 🤷♂️😃
Ich würde die Abschnitte dann unter dem – seit einer Weile nicht mehr fortgeführten – Blog sammeln:
https://gedankenwerk.wordpress.com/zerstorer-von-welten/
Allerdings mit Passwort versehen: „7am7ten“
Falls die 7am7ten Reihe im neuen Jahr fortgesetzt wird und meine Kräfte nicht anderweitig komplett gebunden werden.
Kann allerdings auch sein, dass mir die Monatsfrist zu lang wird und ich unterdessen schon Abschnitte zwischendurch fülle.
Warum wird der geheime Blog nicht fortgeführt?
Und warum mit Passwort?
So viele schwierige Fragen. Ich sage mal aus Sicherheitsgründen wird der Blog nicht mehr fortgeführt und das ist gut so.
Totgeschlagene leben länger – oder so ähnlich.
Da die Seiten für das »Buch« ein immerwährendes Provisorium sind, wäre es schade, wenn die Suchmaschinenroboter das Unvollständige in ihren Suchmaschinenspeicher aufnehmen. Und natürlich kann ich nicht abschätzen, welchen Weg das Projekt noch einschlägt. Allein aus möglichen Jugendschutzgründen setze ich ein Passwort davor und gut ist.
Klingt wie ein gefährlicher Blog im Ruhestand.
Ich bin gespannt, was aus dem Projekt wird.