Seit fast drei Stunden rede ich mit dem Muskelkater Mann, als es schellt. Jörg öffnet und ich frage mich, wer das wohl sein kann. Eine Frauenstimme ist zu hören. Keine Ahnung, wer das ist. Offensichtlich will sie zu mir. Ich finde es meistens großartig, wenn Frauen zu mir wollen. Und während ich noch immer keine Ahnung habe, wer mich besucht, tritt die Brasilianerin zur Tür herein. Schwarze Haare, schwarze Lederjacke, schwarzer Minirock, schwarze blickdichte Strumpfhose. Viel besser kann man ein Outfit kaum wählen. Ich begrüße sie und sage dann den einzigen Satz, der in so einer Situation zu sagen ist. “Der junge Mann verlässt uns jetzt und Sie nehmen seinen Platz ein.” Wenig später ist der Mann fort und die junge Frau sitzt vor mir. Sie erzählt von ihrer Ausbildung und einer Kollegin, die sie vor allen anderen schlecht beahndelt hat, weil sie zwei Minuten zu spät kam. Sie erzählt von einer anderen Kollegin, die ständig zu spät kommt, aber immer freundlich behandelt wird. Die Brasilianerin hat ihrem Chef daraufhin ihre Meinung gesagt. Ich sehe das natürlich etwas anders als sie, aber sie ist, was das angeht, unbelehrbar und uneinsichtig. Vielleicht will sie auch meine Meinung dazu nicht hören. Ich hingegen könnte der jungen Frau vermutlich stundenlang zuhören und sie dabei anschauen. Diese gepflegten, langen Finger, die weiche, leicht gebräunte Haut, diese wundervollen Lippen, die großen leuchtenden Augen. Als würde sie jedes Mal besser aussehen. Und wie sie riecht und strahlt. Mit 24 so auszusehen muss toll sein. Vor dreißig Jahren, als ich zuletzt 24 war, hätte ich, wenn ich ihr gegenüber gesessen hätte, vermutlich geschwitzt, gesabbert und gestammelt. Möglicherweise gegrunzt. Jetzt bin ich ganz angetan, entspannt und freue mich, dass sie da ist. Dennoch versuche ich noch einmal, ihr klarzumachen, dass ein Abbruch der Ausbildung nicht wirklich klug ist, zumal sie erst letztes Jahr eine Ausbildung abgebrochen hat, weil sie mit den Leuten und der Situation irgendwie nicht klar gekommen ist. Sie weist mich darauf hin, dass sie Brasilianerin ist und sich sehr zurückgehalten hat, als sie dem Chef sagte, dass man so nicht mit ihr reden kann, wie es die Kollegin getan hat. Außerdem hat sie ihm gesagt, dass sie, wenn man nochmal so mit ihr redet, direkt nach Hause geht und nicht wiederkommt. So nett würde sie das an anderen Tagen nicht sagen. Ich denke, sie ist einfach nicht bereit, sich unterzuordnen und zu akzeptieren, dass man während der Ausbildung nun einmal nicht machen und sagen kann, was man will. Sie will jedenfalls die Ausbildung abbrechen und wird sich nächste Woche krankschreiben lassen. Wie ein kleines, bockiges Kind. Hübsch, aber uneinsichtig und patzig. Ich soll ihr helfen, einen Job zu finden. Umstimmen kann ich sie leider nicht. Die Frage, was für einen Job sie machen will, kann sie nicht beantworten. Irgendwas mit Kosmetik. Sie hat da auch etwas im Internet gefunden und zeigt mir den WhatsApp-Verlauf. Klingt komplett unseriös und ich rate ihr von dem Unsinn ab. Sie hat wirklich keine realistischen Vorstellungen, aber sie ist 24 und ich war mit 24 ähnlich planlos und blöd. Nur sieht sie dabei wenigstens gut aus. Ich würde ihr alles gerne glauben, aber wenn bei zwei Ausbildungen ähnliche Dinge passieren, dann könnte es auch an einem selbst liegen. Da ich aber erkenne, dass wir uns an dieser Stelle nicht einig werden, belasse ich es zunächst dabei. Nächste Woche versuche ich es nochmal, vermute aber, dass sie nicht auf ihren vernünftigen Coach hören und die Ausbildung einfach wegwerfen wird. Sollte sie das tun, wird es vermutlich das Beste sein, wenn sie nächstes Jahr wirklich nach Brasilien zurückkehrt.
Als Jörg zu uns rüber kommt, schenkt sie jedem von uns eine Packung Rocher. Wir freuen uns über das Weihnachtsgeschenk, doch sie sagt, dass es kein Weihnachtsgeschenk ist. Zu Weihnachten gibt es noch was anderes. Wir können es kaum glauben, glauben es dann aber doch, weil uns die Vorstellung, noch etwas geschenkt zu bekommen, gut gefällt. In zwei Wochen will sie in den Urlaub. Erst Paris, dann London. In London würde sie leben, wenn es dort nicht immer regnen würde. Sie zeigt noch ein Urlaubsfoto vom letzten Urlaub in Paris. Sie vor dem Eiffelturm. Wen interessiert der Eiffelturm?
Nächsten Donnerstag wird sie wieder herkommen, damit ich ihr bei der Jobsuche helfe. Vielleicht erkennt sie dann, dass die Dinge nicht immer so leicht sind, wie sie sich das vorstellt. Vielleicht erkenne aber auch ich, dass es doch so ist. Wir werden sehen. Gleich hat sie noch einen Termin, um sich die Nägel machen zu lassen und fragt mich, welche Farbe sie nehmen soll. Auf die Frage gibt es exakt eine Antwort. Schwarz. Sie ist überrascht, zeigt mir noch ein Foto mit der Farbe, die sie nehmen will und fragt, welche Farbe besser ist. Schwarz. Die Antwort ist immer schwarz.