Die Frau aus Kasachstan hat letzte Woche einen Job abgelehnt, weil ihr 06.00 Uhr als Arbeitsbeginn zu früh ist. Um die Zeit muss sie schlafen, sagte sie in ihrem stümperhaften Deutsch. Sie gehört, dass muss man leider sagen, zu den schlichtesten Teilnehmerinnen, die wir je hatten. Ein Arbeitgeber muss sehr verzweifelt sein, wenn er sie einstellen würde. Viele dieser Arbeitgeber wird es auf diesem Planeten nicht geben und ob wir noch einen davon finden, bezweifle ich stark. Seit ihrer Ankunft in Deutschland vor fast 25 Jahren hat sie es lediglich ein paar Tage als Küchenhilfe und ein paar Tage als Reinigungskraft versucht. Hat nicht funktioniert, wird vermutlich auch in Zukunft nicht funktionieren. Sie kann ja nichts, das muss man schon akzeptieren. Ist bei manchen Menschen einfach so. Man sollte sie einfach in Ruhe lassen und nicht ständig Geld für Maßnahmen ausgeben, in der Hoffnung, dass mal ein Wunder geschieht. Wir sind nicht die richtigen, um Wunder zu vollbringen, auch wenn wir es durchaus versuchen.
Wir sollen ihr bei der Aufenthaltsgenehmigung helfen und bei allem anderen Kram, den sie alleine nicht geregelt bekommt. Fast alles hat bisher Jörg für sie erledigt und jetzt, wo er Urlaub hat, darf ich es tun. Als Erstes benötigt sie einen Termin beim Bürgerservice. Kann sie alleine nicht, vereinbare ich online für sie. Dann muss der Weiterbewilligungsbescheid ausgefüllt werden, dabei fällt auf, dass sie nicht einmal ihre Adresse kennt und diese abschreiben muss. Alle paar Minuten ruft ihr Sohn an. Er ist 16 oder 17 und ich habe keine Ahnung, warum man in dem Alter alle paar Minuten seine Mama anrufen muss. Aber irgendwie passt das alles auch gut zusammen. Mich strengt die Frau allerdings weniger als erwartet an, denn wenn ich die beiden, also Jörg und die Frau, von hier aus gehört habe, klang es sehr anstrengend. Jörg machte ständig irgendwelche Ansagen und sie sprang ständig von Thema zu Thema. Alleine vom Zuhören war ich fast gestresst. Nun sitzt sie bei mir und ich blende das entweder völlig aus, oder aber sie ist nicht so anstrengend, wie ich es erwartet habe. Manchmal, wenn sie etwas will und ich habe zu tun, sage ich, sie soll warten. Manchmal signalisiere ich mit einem einfachen Handzeichen, dass sie schweigen soll. Aus meiner Sicht funktioniert das ganz gut, aber vielleicht sieht es von außen betrachtet auch ganz anders und nach Stress aus. Man hat ja oft eine gestörte Wahrnehmung zu Situationen, an denen man selbst beteiligt ist. Um weiterhin Bürgergeld zu beziehen, benötigt sie die Heiz- und Nebenkostenabrechnung. Hat sie aber nicht mehr, weil weggeworfen. Sie wirft alles weg. Rechnungen, wichtige Dokumente. Immer direkt entsorgen oder wenigstens verlegen. Kann sie nichts zu, ist einfach so. Muss man akzeptieren, weil es an Substanz fehlt. Daher soll ich bei EON anrufen, wegen der Heizkostenabrechnung. Ich erkläre ihr, dass sie sich an ihren Vermieter wenden soll. Findet sie nicht gut, weil er ihr die Unterlagen ja schon gegeben hat. Nun, da sie die Unterlagen entsorgt hat, vielleicht auch nur verlegt, kann man nicht sagen, weiß sie auch nicht so genau, muss sie sich diese halt erneut vom Vermieter aushändigen lassen. So ist das Leben. Es bleibt weiterhin ein Rätsel, wie diese Frau es schafft, ohne größere Schäden anzurichten zu überleben. Ob sie eine (Über)Lebenskünstlerin ist?
Beim nächsten Termin ist von der Überlebenskünstlerin nicht viel zu bemerken. Sie hat sich bei drei Seniorenwohnheimen persönlich vorgestellt und wurde zweimal direkt abgelehnt. Einmal auf eine äußerst unfreundliche und abwertende Weise, weshalb sie nun ziemlich fertig, fast schon verzweifelt ist und bald ihre Tränen nicht mehr zurückhalten kann. Also muss ich sie etwas aufbauen, denn so geht das ja auch nicht. Solche Situationen sind immer etwas verstörend für mich, weil ich keinen Standardplan für weinendeTeilnehmerinnen habe und immer improvisieren muss. Nach einer Weile ist sie zwar noch immer entsetzt und ernüchtert, aber sie kann die Stellensuche ordnungsgemäß fortführen. Gut, dass ich eine beruhigende Wirkung auf Frauen habe. Vielleicht hatte das aber auch gar nichts mit mir zu tun und die Tränen waren einfach nur alle.