Väterlicher Freund

Es ist etwa 14.45 Uhr, als plötzlich und unerwartet die Umarmerin vor der Tür steht. Sie braucht wieder Hilfe bei irgendwelchen Anträgen und eine Kopie. Das ist schnell erledigt und eigentlich braucht sie auch gar keine Hilfe beim Ausfüllen. Da ich noch einen anderen Teilnehmer habe, verabschiedet sie sich gegen 15.00 Uhr, fragt aber noch, ob ich Lust habe, nach Feierabend einen Kaffee mit ihr zu trinken. Das geht natürlich nicht, weil ich feste Zeiten habe. Erwartungsgemäß sage ich, dass wir das gerne machen können. Gegen 15.35 Uhr ist sie wieder da, um mir mitzuteilen, dass sie in der Bäckerei auf mich warten wird. Da der letzte Teilnehmer gegangen ist, biete ich ihr an, dass sie auch hier warten kann. Bei der Gelegenheit schlage ich vor, dass wir im Büro einen Kaffee trinken. Also sie, denn ich trinke Tee. Den Kaffee muss sie aber selber machen, da ich in der Regel keinen Kaffee zubereite. Nachdem das erledigt ist, sitzen wir zusammen, dieses Mal sitzt sie allerdings ordnungsgemäß an der anderen Seite des Tisches, und ich weise sie darauf hin, dass sie immer noch fertig aussieht und so gar nicht mehr, wie ich sie von früher kannte. Sie klagt ein wenig ihr Leid, dann reden wir über psychische Probleme und Therapien und als sie irgendwann endlich mal lacht, weise ich sie darauf hin und sage ihr, dass noch Hoffnung besteht und bald alles wieder gut wird. Das Schlimmste ist bald überstanden. Floskeln kann ich. Als sie mich fragt, wie es mir geht und was ich so mache, weiche ich aus und antworte nicht wirklich, weil das zu persönlich ist und es nichts zu erzählen gibt. Was mir an der Unterhaltung sehr gut gefällt ist die Tatsache, dass wir uns auch weiterhin siezen. Das schafft eine angenehme Distanz und lässt mich professionell und abgeklärt wirken.

Wenig später ist sie der Meinung, dass wir die Tassen spülen müssen und geht in die Küche. Ich folge ihr, weil ich mir so ihre Figur, die mir weiterhin gefällt, anschauen kann, ohne dass es negativ auffällt. Ich bin ein oberflächlicher Spanner, fühle mich aber gut damit. Sie spült und ich trockne, weil es merkwürdig wäre, wenn ich ihr nur dabei zusehe. Dann ist es Zeit zu gehen. Weil ich längst Feierabend habe, begleite ich sie nach draußen, wo sie noch eine Zigarette zu sich nimmt. Wir plaudern noch und sie sagt, dass sie in den nächsten Tagen noch öfter vorbeikommen wird. Ich erwidere, dass ich das weiß. Zum Abschied hält sie mir die Hand hin, was mich irgendwie wundert, aber warum nicht. Also gebe ich ihr die Hand und kaum habe ich das getan, wird aus dem Händeschütteln in einer fließenden Bewegung eine Umarmung, die eindeutig von ihr ausgeht, die ich aber nicht abwehren kann, weil ich keine Zeit habe, darüber nachzudenken. Diese Umarmung dauert auch eindeutig länger als beim letzten Mal, was ich durchaus mag, aber wenn eine Umarmung zu lange dauert, dann wird es schnell privat, was natürlich so nicht geht. Es ist offensichtlich, dass sie ihren Kopf gegen meinen lehnt, was möglicherweise normal ist, worüber ich aber sicher nochmal nachdenken muss. Sie fühlt sich allerdings gut an, weshalb ich keine Anstalten mache, die Umarmung direkt wieder zu lösen. So automatisch, wie die Umarmung begonnen hat, endet sie auch wieder und mir wird klar, was es zu bedeuten hat. Die Frau, die immerhin 15 Jahre jünger als ich ist, schwer unter dem zu frühen Tod ihres Vaters gelitten hat und derzeit eine schwere Phase durchmacht, hat mich als väterlichen Freund ausgewählt. Scheinbar habe ich jetzt die nötige Reife, um dafür geeignet zu sein. Vermutlich ist das eine ganz normale Entwicklung und war nicht zu verhindern, allerdings weiß ich noch nicht, was ich davon halten soll, denke aber, dass es etwas Gutes ist, ein väterlicher Freund zu sein. Ich muss mich mal erkundigen, welche Aufgaben ich als väterlicher Freund habe und wie ich dieser neuen Verantwortung am besten gerecht werde.