Um 15.30 Uhr besucht mich Frau P. Sie kommt fast jeden Donnerstag zu Besuch, um zu quatschen oder weil sie Hilfe braucht. Darüber hinaus ruft sie fast täglich an, um zu erzählen, was ihr wieder passiert ist. Heute muss sie eine Mail an die Wohnungsgesellschaft und einen Brief an die LWL-Klink schreiben. Wir haben gerade mit der Mail begonnen, da klingelt es. Es ist 15.40 Uhr, ich erwarte niemanden und habe in zwanzig Minuten Feierabend. Ordnungsgemäß gehe ich zur Tür und erkenne, dass eine Frau vor der Tür steht, aber zunächst nicht, um wen es sich bei der Frau handelt. Als ich die Tür öffne, stelle ich fest, dass es die Umarmerin ist, was mich durchaus freut. Sie fragt, ob ich etwas Zeit habe, um ihr zu helfen. Jetzt habe ich schon zwei junge Frauen hier, die meine Hilfe benötigen, obwohl sie schon lange nicht mehr in irgendeiner Maßnahme sind. Offiziell darf ich das nicht, aber möglicherweise leide ich unter einem Helfersyndrom oder kann nur schwer nein sagen. Vielleicht auch beides. Ich bitte die Umarmerin herein und sage, dass sie noch kurz warten muss, weil ich erst Frau P. helfen werde. Die Umarmerin geht direkt hinter meinen Schreibtisch, nimmt sich einen Stuhl und beginnt mit dem Ausfüllen ihrer Unterlagen. Ich hatte zwar gedacht, sie würde an einen der Teilnehmerplätze gehen, aber wenn sie direkt neben mir sitzt, kann ich ihren wundervollen Duft viel besser inhalieren. Ich helfe abwechselnd Frau P. bei der Mail und der Umarmerin beim Ausfüllen. Die Umarmerin legt ihre Hand auf meinen Arm und bedankt sich für die Hilfe. Da ich lernfähig bin, zumindest gelegentlich, lege ich anschließend meine Hand auf den Arm der Umarmerin und sage, dass ich mich kurz um Frau P. kümmere und dann wieder Zeit für sie habe. Weil mir zwei Frauen zu viel sind, einige ich mich mit Frau P. darauf, dass wir nächste Woche den Brief schreiben und sie jetzt geht. Zwei Frauen zugleich glücklich machen konnte ich noch nie. Die Umarmerin setzt sich, nachdem alles ausgefüllt ist, an einen der Rechner, um etwas auszudrucken. Ich sage ihr, dass sie wieder ganz wunderbar riecht und frage nach ihrem Parfum. Das weiß sie nicht, sie hat einfach zu viele Parfums. Sie freut sich jedenfalls, dass ich ihren Duft mag. Dann ist es Zeit, sich zu verabschieden. Sie packt ihre Unterlagen zusammen und teilt mir mit, dass sie diese jetzt direkt zur Anwältin bringt und fragt, weil sie weiß, dass ich gleich Feierabend habe, ob ich Lust habe, mit ihr einen Kaffee zu trinken. Das geht natürlich nicht, weil ich keinen Kaffee trinke, zur Toilette muss, immer direkt nach Hause fahre und das Coupé noch waschen muss. Außerdem esse ich zu festen Zeiten. Während mir all diese Argumente durch den Kopf gehen, höre ich, wie ich ja sage. Sie freut sich und ich wundere mich über mich, weil ich so etwas eigentlich nicht mache. Ich treffe mich nicht mit fremden Frauen, damit habe ich vor vielen Jahren aufgehört.
Etwa fünfzehn Minuten später treffen wir uns vor einer Bäckerei und gehen rein. Weil ich immer noch verwirrt bin, bestelle ich einen kleinen Kaffee, schwarz, ohne irgendwelchen Firlefanz. Mein erster Kaffee seit vielen Jahren. Sie bestellt einen großen Kaffee und sagt: “Ich bezahle und sie setzen sich hin.” Das ist großartig, denn ich liebe es, wenn Frauen für mich bezahlen. Während ich sitze und in Gedanken schwelge, bringt die Umarmerin mir meinen Kaffee. Herrlich, sie zahlt nicht nur, sie bedient mich auch. Nachdem sie ihren Kaffee geholt und sich gesetzt hat, beginnt sie zu erzählen. Wie schlecht es ihr derzeit geht, wegen ihrem Ex-Freund, und wie gut es ihr tut, wenn sie mal mit jemandem reden kann. Ich schaue sie an und es ist offensichtlich, wie sehr sie das alles mitnimmt. Sie wirkt gealtert und sieht fertig aus. Erschreckend, und das alles wegen eines Mannes mit Minderwertigkeitskomplexen. Mein Redeanteil liegt bei etwa 10%. Mehr habe ich auch nicht zu erzählen. Ich bin in etwa so unterhaltsam wie ein abgeknickter Grashalm am Straßenrand. Am Ende des Gesprächs lässt der Jobcoach in mir dann allerdings noch ein paar Weisheiten zum Berufsleben auf sie niederprasseln. Zum Abschied sagt sie, dass wir gerne öfter Kaffee trinken können und ohne weiter darüber nachzudenken, erkläre ich mich einverstanden. Ich glaube, ich eigne mich ganz wunderbar als Zuhörer, wenn eine Frau Kummer hat und jemanden zum Reden braucht. Vielleicht sollte ich das ausbauen. Frauen laden mich ein und ich höre ihnen zu. Eventuell ist das meine Bestimmung und der Beginn einer ganz wunderbaren Zukunft. Stellt sich nur die Frage, wo und wie ich Frauen dafür begeistern kann. Da muss ich unbedingt drüber nachdenken. Aber nicht jetzt, jetzt muss ich das Coupé waschen.
Ich lese das sehr interessiert und wohlwollend. 😎🎬🍿 ich sehe meine Hoffnungen auf die neue Rubrik „Umarmungen“ noch nicht schwinden. 🤗
Umarmungen. Ab morgen in Ihrem Kino. Oder an einen anderen Ort Ihrer Wahl. Nur nicht hier. 😁
Ich bleibe stur optimistisch romantisiert. 🤭🙄
Romantisiert auch noch. Behalte Du Deinen Optimismus und ich halte Ausschau nach guten Geschichten.
Das sind ja fantastische Aussichten!
Wird jetzt alles gut? Das klingt wie der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Wo hab ich das schon mal gehört?
Wird jemals alles gut?
Casablanca?
Ich wäre enttäuscht gewesen, wenn das Coupe nicht die nötige Aufmerksamkeit bekommen hätte.
Verständlich. Aber da muss man sich bei mir keine Sorgen machen.
Ich war schon ein paar Jahre nicht mehr hier. Du ziehst das (Schreiben) immer noch durch. Respekt. 😉
Ja, es ist wie eine Sucht. Oder eine Mission. Vielleicht auch ein Knall. 😄
Aber ich habe durchaus gelegentlich darüber nachgedacht aufzuhören …