Damals – April 2013

Nach langer Zeit gibt es hier mal wieder drei alte Texte aus der Vergangenheit, die zeigen, wie abwechlungsreich mein Leben im April 2013 war.


Menschen wie sie und ich
Heute ähneln sich meine Kunden irgendwie sehr. Fast alle männlich, mit Tragetasche und nach Tabak stinkend. Verlorene Seelen auf der Suche nach einer Zukunft und schönen Bewerbungsunterlagen. Was die Bewerbungsunterlagen angeht, sind sie bei mir richtig. Doch weiter bringt sie das nicht wirklich, denn sie werden vermutlich für immer irgendwie arbeitslos sein und unangenehm riechen. Das unterscheidet sie nur wenig von mir, dennoch sind wir ziemlich unterschiedlich. Nicht nur deshalb, weil ich nicht so unangenehm rieche. Den meisten sieht man ihre Verwahrlosung sofort an und bei denen man es nicht sofort sieht, riecht man es. Trotzdem, und das unterscheidet sie ziemlich von mir, sind sie nicht vollkommen hoffnungslos, was ihre berufliche Zukunft angeht. Sie glauben scheinbar daran, dass irgendwann eine ihrer Bewerbungen zum Erfolg führen wird. Ich glaube weder bei deren, noch bei meinen Bewerbungen daran, dass sie zum Erfolg führen. Bei ihnen hoffe ich es aber, bei mir fürchte ich es. Möglicherweise habe ich einen schlimmeren Dachschaden als ich es mir eingestehen mag. In einem Punkt aber bin ich sehr wohl wie sie. Wir sind Menschen, welche die Arbeitslosenstatistik nach oben treiben und an denen einige gut verdienen.

Gegen Mittag besucht mich ein Ehepaar im Büro. Statt nach Tabak riecht die Frau nach Parfum. Es brennt in meiner Nase, das Atmen fällt mir schwer. Die beiden kamen vor zwölf Jahren aus Kasachstan nach Deutschland. Sie hat zwei Deutschkurse machen dürfen und trägt nun Zeitungen aus. Er arbeitet ab und an als Helfer. Sie fahren einen ziemlich neuen Audi A6. Von ihnen könnte ich vermutlich noch viel lernen. Doch das möchte ich nicht. Mir geht es gut. Den beiden scheinbar auch. Kurz vor Ende des Tages ruft ein Mann an, redet viel und sagt wenig. Er will noch ein paar Jahre arbeiten. Doch niemand will ihn. Gerade läuft im Fernsehen eine seiner Lieblingsserien. Leopard, Seebär & Co. Da hat er gesehen, dass es ältere Tierpfleger gibt. Er mag Tiere und möchte jetzt Tierpfleger werden. Die sollen ihn anlernen und dann möchte er da ganz entspannt arbeiten. Er fragt, ob er sich nicht einfach in einem Zoo als Tierpfleger bewerben soll. Er stellt sich den Job ganz leicht vor. Er mag Tiere. Und er wiederholt gerne, was er sagt. Wie ein kleiner Junge, möchte dieser fast sechzigjährige Mann nun Tierpfleger werden, weil das im TV so toll aussieht. Ausreden will er sich das nicht lassen. Und weil wir hier im Büro zwar nicht jeden verstehen, aber auch keine Spielverderber sein wollen, bekommt er einen Termin für seine Bewerbung als Tierpfleger. Er wird zwar am Ende sicher kein Tierpfleger, aber vielleicht geben wir ihm für ein paar Tage etwas Hoffnung und den Glauben daran, dass er doch noch gebraucht wird und nicht überflüssig ist. Und jeder Tag Hoffnung, kann nur gut für ihn sein. Regelmäßig geben wir den Verzweifelten, die eigentlich nicht mehr gebraucht werden, für eine kurze Zeit etwas Hoffnung. Und wenn sie später anrufen, um uns zu sagen, dass ihre Hoffnungen und Träume mal wieder zerschlagen wurden, hören wir ihnen zu. Mehr können wir nicht tun. Vielleicht freuen wir uns eines Tages ja auch, wenn uns jemand zuhört und uns kurzzeitig etwas Hoffnung gibt. So endet der Tag im Büro, so wie er begann und wir alle bleiben, was wir am Morgen waren. Lebende Arbeitslose. Schwarze Schafe der Gesellschaft. Die Gesellschaft kann uns mal.

Ein Zahnarzttermin
Diese stets wiederkehrenden Zahnarzttermine sind einfach nichts für mich. Da hilft es auch nichts, dass ich meine Zähne recht gut pflege und ständig Zahnseide verwende. Ich fühle mich spätestens am Tag vor dem Termin schlecht und stelle mir permanent vor, wie ich in diesem Zahnarztstuhl gefangen und ausgeliefert bin, keine Luft mehr bekomme und gefoltert werde. Fortan habe ich Magenprobleme, die sich erst nach der Behandlung schlagartig von mir verabschieden. Blöde Psychospielchen.
Als ich heute die Praxis erreiche, stelle ich schnell fest, dass ich keine der Helferinnen je zuvor gesehen habe. Vermutlich alles neue Auszubildende. Und obendrein zu jung, um mir das Gefühl zu geben, dass mir hier nichts passieren kann. Lediglich die Frau am Empfang gehört schon immer zum Personal. Aber das hilft mir nicht weiter. Nach einer kurzen Wartezeit werde ich aufgerufen. Eine Auszubildende, ich schätze siebzehn Jahre alt, vermutlich erstes Lehrjahr, führt mich ins Behandlungszimmer. Kaum sitze ich, möchte sie meine Zähne sehen. Und kaum hat sie sie gesehen, möchte sie den Zahnstein entfernen. Ist sie nicht zu jung dazu? Zeit zum Nachdenken bleibt mir nicht, schon geht es los. Mund auf, irgendwas stößt in mein Zahnfleisch. Aua. Und genau so geht es weiter. War es schon immer so schmerzhaft, Zahnstein zu entfernen oder liegt es an der jungen Auszubildenden? Oder sind es meine Vorurteile gegen zu junge Frauen, die in meinem Mund herumdoktern? Spielt vermutlich keine Rolle. Weh tut es trotzdem. Zum Glück habe ich nur wenig Zahnstein mitgebracht, so dass es schnell vorbei ist. Wenige Minuten später erscheint mein Zahnarzt und bringt eine attraktive, blonde Frau mit. Warum tut er das? Er stellt sie vor. Ich bin zu verwirrt, richtig zuzuhören. Angehende Ärztin, Ärztin im Praktikum. Irgendwas in dieser Art. Der Zahnarzt ist entspannt wie immer, ich verkrampft wie immer. Die Kontrolle beginnt. Und damit die blonde Frau auch alles gut sieht, darf sie auch in meinen Mund gucken und bekommt irgendwelche Erklärungen, während ich dazu leide. Mir passiert zwar nichts, aber ich leide. Das ist ganz selbstverständlich für mich. Ich lasse es mir aber nicht anmerken. Ist auch selbstverständlich für mich. Da mache ich keine große Sache draus. Zu allem Unglück findet mein Zahnarzt zwei Zähne, die eine neue Füllung brauchen. Mir wird heiß und kalt. Und wie immer endet die Untersuchung an meinem Weisheitszahn, der schon seit Jahren raus soll. Natürlich nimmt der Zahnarzt auch heute dieses spitze Instrument und sticht in den angegammelten Weisheitszahn. Tief bohrt er die Spitze in den Karieszahn. Und zu unserer beider Überraschung, tut es gar nicht weh. Das war schon mal anders. Der Zahn bleibt weiter unter Beobachtung. Untersuchung beendet. Der Patient lebt, löst sich aus seiner Verkrampfung und verabschiedet sich vom Zahnarzt und der hübschen, blonden Zuschauerin. Gleichzeitig beschließe ich, dass sie niemals an meinen Zähnen rumdoktern darf. Blonde Frauen und ich, das geht niemals gut. Am Ende stehe ich womöglich noch ganz ohne Zähne da. Das möchte ich nicht. Die junge Auszubildende, die ebenfalls blond ist, ist nun für die Terminvergabe zuständig. Sie fragt, ob beide Zähne an einem Termin gemacht werden sollen. „Nein. Die liegen zu weit auseinander und außerdem bin ich ein Angstpatient.“ Sie lächelt freundlich. Vermutlich ist es ein mitleidiges Lächeln. Ich schäme mich. Ich bin echt nicht zurechnungsfähig und voll peinlich, sobald ich eine Zahnarztpraxis betrete. Zeit, mich zu verabschieden und durchzuatmen.

Brigittäh
Heute darf ich wieder einen Tag im Sozialinstitut Kommende verbringen. Wie immer fühle ich mich leicht deplatziert und nutze die Stunden, um das Verhalten der anderen Teilnehmer zu beobachten. Eigentlich sollte es um 09.15 Uhr losgehen, doch wie erwartet verspäten sich viele Teilnehmer, so dass wir direkt von Anfang an in Zeitverzug sind. Ich hasse so etwas. Nach einer launigen und zum Glück recht kurzen Vorstellungsrunde beginnt der Dozent mit seinem Vortrag. Schnell stellt sich heraus, dass Brigittäh heute diejenige sein wird, die den Betrieb mit ihren entzückenden Fragen aufhalten wird. Und weil sie während ihrer Fragen und Ausführungen ständig ins Stocken gerät und immer „Äh“ sagen muss, nenne ich sie Brigittäh. Ein schöner Name für eine Frau über 50. Brigittäh ist auch für die Pausen zuständig. Hat sich selbst zur Pausenwärterin gemacht und fordert die Pausen ein. Sehr tapfer, die kleine Nervensäge. Die erste Pause ist eigentlich kurz, aber da die meisten Teilnehmer komisch sind, verlängern sie die Pause einfach. Sehr klug, denn so werden wir nie pünktlich fertig. Bis zur Mittagspause zieht es sich sehr. Ich bin müde, kann dem Vortrag kaum folgen und nutze die Zeit, um durchzuzählen. Fünf Männer und zwanzig Frauen füllen den Raum. Ich gehöre hier nicht hin, doch das macht nichts. Vielleicht sind hier noch andere, die hier ebenso wenig hingehören. Brigittäh ruft zur Mittagspause. Sie gehört definitiv hier hin. Sie ist sehr sozial. Das passt. Nach der Pause fehlt von den meisten Teilnehmern zunächst jede Spur. Sehr sozial, diese Sozialarbeiter. Der Dozent macht dennoch weiter, um nicht bis Mitternacht hier sitzen zu müssen. Nach und nach trudeln die sozialen Trödler ein. Als letzte taucht, wer hätte es gedacht, Brigittäh auf. Sie hat die Pause genutzt, um ein paar Blumen zu besorgen. Sehr clever und ökonomisch, wie sie so vorgeht. Ein echter Wonneproppen mit hoher sozialer Kompetenz und klaren Zielen. Dann wird es etwas grotesk. Die unpünktlichsten der Teilnehmer, mokieren die Unpünktlichkeit einiger Menschen und besonders die ihrer Kunden. Ich amüsiere mich sehr über diese Teilnehmer. Ob sie wissen, dass sie auch nicht besser sind? Vermutlich nicht. Dass sie die Pausen verlängern, scheint ihnen entgangen zu sein. Oder sie haben triftige Gründe. Jetzt sind sie jedenfalls die, die am lautesten krähen und Unverständnis in die Runde werfen. Widerwärtiges, heuchlerisches Pack. Brigittäh hat dann auch gleich wieder ein paar Fragen. „Äh, Öh, Üh, Ähhhhh, …“ Wir werden hier um 17.00 Uhr noch sitzen, wenn das so weiter geht. Sehr sozial. Ist ihr Gehirn ausgefallen? Es scheint zumindest so.
Pünktlich um 15.00 Uhr verlangt Briggitäh nach einer Kaffeepause. Die ist doch durch. Kaffeepause genehmigt. Bei ihren Pausenzeiten ist Brigittäh sehr genau. Die hat sie sich verdient. Muss sich vermutlich von ihren vielen Fragen erholen. Nachdem alle noch einmal Kräfte gesammelt haben, geht es weiter. Brigittäh hat da noch eine Frage. Und dann noch eine. Und dann, es ist etwa 15.50 Uhr, fallen bei ihr die Systeme aus. Augen zu und ruh. Unglaublich. Nach einigen Minuten kommt sie wieder zu sich, zieht ihre Jacke an, steht auf und verlässt um 16.02 Uhr die Runde, die sie vorher so grandios aufgehalten hat. Sie ist gnadenlos konsequent und gnadenlos lästig. Der Dozent macht weiter. Nur wenige hören weiter zu. 16.12 Uhr. Ich habe genug, stehe auf und verlasse ebenfalls diese Veranstaltung. Warum soll ich hier weiter leiden, während die Hauptverursacherin des Chaos längst gegangen ist?


Was sonst noch im April 2013 passiert ist, kann hier nachgelesen werden.

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