Als ich zu Jörg ins Büro gehe, ruft er plötzlich, dass ich draußen bleiben soll, weil sein Kumpel, mit dem er am Abend vorher unterwegs war, nicht nur schwer erkältet ist, sondern auch Corona hat. Ich finde das Verhalten zwar fragwürdig, aber besser als mich nicht darauf hinzuweisen. Nachdem sein Corona-Test, den er natürlich sofort macht, negativ ist, ist direkt wieder alles gut. Entwarnung sozusagen. Dass es seinen Kumpel überhaupt so schwer erwischt hat, kann er aber nicht verstehen, weil der ja dreifach geimpft ist. Ich verstehe nicht, was es da nicht zu verstehen gibt, sage aber nichts dazu.
Zwei Tage später ist Jörg total erkältet und hustet alles voll. Ich sage ihm, dass ich ihn heute meiden muss und ziehe mich in mein Büro zurück, doch immer und immer wieder kommt er in mein Büro und gefährdet meine Gesundheit. Auch die Tatsache, dass ich ihn, so gut es geht, ignoriere, irritiert ihn scheinbar nicht. Wenn man kein Corona hat bzw. glaubt, dass es so ist, dann kann man seine Viren scheinbar wahllos und großzügig verteilen. Ich verstehe ja, dass ihm langweilig ist, aber ich würde nie auf die Idee kommen, ständig ins Büro von irgendeinem Kollegen zu gehen, wenn ich erkältet bin. Irgendwann setzt er sich sogar an meinen Tisch, weshalb ich mich an einen anderen Tisch setze. Selbst jetzt kommt ihm nicht in den Sinn, dass seine Anwesenheit unpassend ist. Obwohl ich ihm schon am Morgen gesagt habe, dass ich Abstand bevorzuge, was er gut fand, sucht er den Kontakt. Ich nenne ihn Seuchenvogel, er will die Seuche teilen. Ich sage, er soll in seinem Büro schlafen, Musik hören oder einen Film gucken. Das macht er ein paar Minuten, dann kommt wieder zu mir, weil ihm langweilig ist. Ich sage, dass er zum Arzt gehen kann, er steht lieber in meinem Büro und möchte plaudern. Was zum Teufel bewegt Leute dazu, so etwas zu tun? Bei der schlimmsten und widerlichsten Erkältung wird Kontakt gesucht, bei einem positiven Corona-Test, ohne jegliche Symptome, wird aber durchgedreht und der Panikmodus angeworfen. Warum kann man sich nicht, soweit es möglich ist, mit seiner Seuche von der Herde separieren, bis es vorbei ist? Was stimmt nicht mit den Leuten und wieso wollen alle ihre Viren, abgesehen von denen der hippsten Seuche des Jahrhunderts, so gerne an alle anderen weitergeben? Menschen sind einfach zu blöd. Blöd. Blöd.
Kaum unterhalte ich mich länger mit zwei Teilnehmern, kommt er schon wieder und gesellt sich zu uns. Sofort sage ich “Ieh” und ziehe mich ans andere Ende des Raums zurück. Kranke Tiere ziehen sich zum Sterben zurück, verseuchte Menschen teilen ihr Leid gerne mit anderen und vielleicht ist es der größte Wunsch von verseuchten Menschen, dass andere auch verseucht werden. Eventuell ist das ein evolutionsbedingter Genfehler, der nur durch eine Lobotomie ausgemerzt werden kann. Ich merke, dass mein Drang, Leute einer Lobotomie zu unterziehen, in letzter Zeit wieder stärker wird. Jörg teilt mir mit, dass die Sinupret-Tabletten, die er sich heute Morgen in der Apotheke geholt hat, schon geholfen haben, die Nase freizumachen. Erscheint mir zwar unwahrscheinlich, dass die Tabletten so schnell wirken, aber wenn er weiter den Kontakt sucht, kann ich das sicher in ein paar Tagen selber testen. Ich habe schon mit einigen erkälteten Kollegen gearbeitet, aber ich kann mich nicht erinnern, dass sie auch so den Kontakt gesucht haben. Das hat was von einem Kind, das sich langweilt und beschäftigt werden will. Aber die Kindheit ist schon lange vorbei, auch wenn die meisten Männer nie erwachsen werden.
Bis zum Feierabend kommt er wieder und wieder und wieder. Egal, wie sehr ich ihn ignoriere. Er geht sogar zu einem Teilnehmer, nimmt die PC-Maus, arbeitet mit der Tastatur, fasst alles an, schnieft, hustet und verteilt, was er verteilen kann. Ich kann meine Faszination für das Verhalten kaum in Worte fassen. Und schon folgt die nächste Hustenattacke als Jörg meinen Tisch erreicht hat, um sich gemütlich hinzusetzen. Sollte ich den ganzen Viren nicht widerstehen können und deshalb ausfallen, kann Jörg den Laden alleine schmeißen. Ich bin gespannt, wie ihm das gefallen wird. Wobei das eher unwahrscheinlich ist, weil er ja auch krankheitsbedingt ausfallen wird.
Erst auf dem Weg nach Hause, wird mir klar, was für ein Depp ich bin, denn als Stellvertretender Leiter von irgendwas hätte ihm verbieten können, dass er sein Büro verlässt. Ich hätte ihn vermutlich auch nach Hause schicken können. Sollte er mich verseucht haben, ist es meine eigene Doofheit, die dazu geführt hat. Ich glaube, jetzt bin ich erstmal deprimiert.