Völlig überraschend hat Bruna vor ein paar Tagen Manni und mich eingeladen, sie am ersten Weihnachtstag zu besuchen. Überraschend unter anderem auch deshalb, weil ich zuletzt vor ungefähr 35 Jahren mit ihr gesprochen habe. Erst seit Januar diesen Jahres haben wir überhaupt wieder Kontakt, weil Manni ihr quasi nahegelegt hat, mir ihre Nummer zu geben. So schreiben wir uns gelegentlich per WhatsApp und werden nachher zum ersten Mal nach all den Jahren wieder miteinander sprechen, weil ich nicht davon ausgehe, dass wir während des Besuchs weiter über WhatsApp miteinander kommunizieren werden. Lustig wäre das aber schon.
Gegen 15.25 Uhr hole ich Manni ab und etwa fünf Minuten später parke ich das Coupé bei Bruna vor dem Haus. Mir fällt ein, dass ich in dieser Straße früher gelegentlich mit dem Fahrrad oder zu Fuß unterwegs war. Hier in der Gegend wohnten, wenn ich mich richtig erinnere, auch noch andere Mitschülerinnen von der Schule. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. An dieses Haus kann ich mich aber nicht erinnern. Bruna empfängt uns und bittet uns durch die Garage zum Hintereingang zu kommen. Manni scheint sich auszukennen und ich versuche direkt, die Bruna von damals mit der Bruna, die uns empfangen hat, in Verbindung zu bringen, was mir nicht gelingt. Während wir auf dem Weg zum Hintereingang sind, frage ich mich, ob ich sie erkannt hätte, wenn ich nicht wüsste, dass sie es ist. Dann frage ich mich, ob ich mich erkennen würde, wenn ich mich seit über dreißig Jahren nicht gesehen hätte.
Auf dem Tisch steht Kuchen und mir fällt ein, dass ich meine Laktase-Tabletten nicht dabei habe, obwohl vermutlich davon auszugehen war, dass es Kuchen geben wird. Weil ich nie vorher weiß, welche Auswirkungen Milchprodukte auf mich haben, verzichte ich auf den Kuchen. Und statt Kaffee gibt es Wasser, weil Kaffee noch nie etwas für mich war. Wir plaudern irgendwie und ich bin leicht verwirrt, weil wir plaudern als würden wir uns kennen, dabei können wir uns ja gar nicht kennen. Es wird deutlich, dass ich irgendwie ein merkwürdiger Mensch bin, weil ich die ganze Zeit über die Situation nachdenke. Ich weiß nicht einmal, ob ich mich an den Gesprächen wirklich beteilige, oder ob ich nur ab und zu irgendwelche Kommentare abgebe, von denen ich hoffe, dass sie witzig sind. Der Mops des Hauses scheint auch verwirrt und bellt, bettelt und dreht sich manchmal im Kreis bevor er sich seitlich hinlegt und an seinen Füßen rum beißt oder sich irgendwie ableckt. Manchmal erscheint mir das aktuelle Geschehen durchaus surreal. Es ist wie damals, als wir meine Tante besuchten. Da saßen wir auch in einem großen Raum zusammen, die Erwachsenen unterhielten sich und ich war dabei, aber doch nicht dabei. Während die beiden Erwachsenen, Manni und Bruna, Gespräche Erwachsener führen, komme ich mir irgendwie deplatziert vor. Fast als wäre ich aus der Zeit gefallen, als wäre ich zufällig in die Erwachsenenwelt geworfen worden. Der Mops liegt mittlerweile schlafend und schnarchend auf dem Boden und keiner stört sich daran. Wenn man sich als Erwachsener einfach so im Kreis dreht, dann auf die Seite legt und sich leckt, bevor man an Ort und Stelle schnarchend schläft, wird man direkt eingewiesen, zumindest aber für verrückt erklärt. Auch finden es die Menschen meist toll, aber zumindest normal, dass sich Hunde und Katzen nur dann bemühen, wenn sie was zu fressen oder spielen wollen. Ansonsten dürfen Haustiere tun, was sie halt tun. Wenn sich aber ein Lebenspartner ähnlich verhält, nur zum Essen oder zum Sex erscheint, also nur dann, wenn es ihm Vergnügen bereitet, dann ist das plötzlich alles andere als akzeptabel, dann ist der Mann ein Schwein und die Frau eine Schweinefrau. Und schnarchend auf dem Boden liegen geht grundsätzlich nicht. Wobei auf dem Boden liegende, schnarchende Menschen auch im Gegensatz zu Tieren völlig bescheuert aussehen und niemand so etwas sehen wollen kann. Wozu denke ich jetzt eigentlich über so etwas nach?
Manni hat ein Klassenfoto dabei und am Ende haben wir alle Namen zusammen. Was wohl aus all den Menschen geworden ist? Zwei der Frauen sind, wie wir wissen, längst tot. Alle anderen sind vermutlich erwachsen geworden und bereiten sich langsam auf den Renteneintritt vor, haben Karrieren gemacht, wurden geschieden, haben Kinder oder Haustiere und erinnern sich vermutlich nicht mehr an uns. Alles sehr verwirrend. Mit so etwas konnte doch damals keiner rechnen. Oder konnte nur ich nicht damit rechnen, weil mich schon damals das meiste nicht interessiert hat und ich auch schon damals irgendwie merkwürdig war? Jetzt fällt mir wieder ein, dass ich nicht nachgeschaut habe, ob ich damals nicht doch mal eine Ehrenurkunde beim Sport bekommen habe. In meinem Kopf spielen sich wahrlich viele merkwürdige Dinge ab, die selten etwas mit der aktuellen Realität zu tun haben.
Zweimal während unseres Besuches versucht Bruna den Kater des Hauses zu uns zu tragen, doch sobald der Kater uns sieht, wird er regelrecht panisch, springt herunter und läuft weg. Ich frage mich, wer von uns beiden ihn so verschreckt und was der Kater in uns sieht. Was ängstigt ihn so? Mittlerweile stehen Chips auf dem Tisch und ich frage mich, wie groß wohl das Wohnzimmer ist. Ich glaube, dass es so groß ist, dass meine komplette Wohnung, inkl. Balkon, direkt darin untergebracht werden könnte, was sich später bestätigt.
Nach etwa drei Stunden möchte Manni, dass wir gehen und ich bin froh, dass ich das nicht entscheiden muss, weil ich noch immer verwirrt bin und ständig versuche uns von damals mit uns von heute zu einem Gesamtbild zusammen zu fügen, was mir aber nicht gelingt. Selbst den aktuellen Manni kann ich nicht mit dem Manni von damals in Einklang bringen, weil mein Kopf das nicht verbinden kann. Bruna bietet uns noch Geschnetzeltes an, aber weil wir im Begriff zu gehen sind, lehnen wir ab. Sofort bekomme ich ein schlechtes Gewissen, weil ich glaube, dass sie uns länger als Gäste eingeplant hat und sich extra viel Mühe gemacht hat und wir Banausen das nicht schätzen und nicht angemessen würdigen. Jetzt tut mir das alles schrecklich Leid, was irgendwie blöd ist, weil es keinem hilft. Bruna bringt uns noch zum Auto und sagt mir, dass sie mich kleiner in Erinnerung hatte. Ich erwidere, dass ich extra hohe Schuhe angezogen habe, was aber nicht stimmt. Vielleicht bin ich nach der Schule tatsächlich noch gewachsen. Kurz danach stehe ich irgendwie ratlos neben mir und meinem Auto und kann das alles immer noch nicht richtig einordnen. Machen wir das jetzt öfter, einmal im Jahr oder nie wieder? Und wieso ist es so kalt, dass das Dach vom Coupé schon mit einer Eisschicht bedeckt ist?
In den drei Stunden habe ich nicht einmal mein Smartphone in die Hand genommen, was ich überraschend finde. Allerdings habe ich das auch nicht vermisst, ich weiß eh nicht, warum wir Menschen ständig mit diesen Geräten herumspielen müssen. Vermutlich, weil wir alle gehörig einen an der Waffel haben. Später schreibt Bruna noch, dass es Spaß gemacht hat und wir gerne hätten länger bleiben können. Ich antworte, dass man sich an neue Gesellschaft erst langsam gewöhnen muss. Wir wollen die Zusammenführung demnächst nochmal üben und dazu bekomme ich dann auch laktosefreien Kuchen serviert. Nach so viel Realität schaue ich mir Avengers – Age of Ultron an, weil ich mit Filmen einfach besser zu kombinieren bin als mit der Realität.
Vermutlich war das gar kein so schlechter Abend, wenn du die ganze Zeit nicht aufs Natel geschaut hast, und drei Stunden Aufenthaltsdauer finde ich nahezu perfekt. Sehr schöne Gedanken zum Mopsdasein, die sich auf Kater übertragen lassen, zumindest auf unseren (schmeisst sich auf sein Kissen, leckt sich, gähnt, seufzt, döst ein. Wir voll des Entzückens). Kater sollte man sein, aber anderseits, der ist sich seiner Privilegien ganz bestimmt nicht bewusst, also was bringts?
Vielleicht ist es grundsätzlich ein Vorteil, wenn man sich der Privilegien und anderer Dinge nicht bewusst ist, sondern einfach nur ist.
Ob man das überhaupt werten kann? Sein ist sein, feddisch.