Weil Zahn 27, im Gegensatz zu Zahn 16, seit Tagen ruhig ist, gucke ich immer wieder nach, ob die Fistel noch zu sehen ist, denn sie ist der einzige Grund, den Termin nicht abzusagen. Irgendwie hat mir der anstehende Termin die letzten Tage etwas versaut, weil ich ständig gedanklich damit beschäftigt war. Außerdem ist da noch Zahn 16, der seit der letzten Behandlung nicht mehr beschwerdefrei ist. Beim Klopftest sind sich Zahn 16 und Zahn 27 einig, beide mögen nicht, wenn geklopft wird. Daher bin ich mit mir einig, dass beide raus müssen. Zahn 27 heute, Zahn 16 in absehbarer Zeit. Da ich mir maximal zwei Implantate leisten kann, werden Zahn 37 und Zahn 27 nicht ersetzt und ich in Zukunft weniger Zähne haben. Manchmal hat man einfach keine Wahl.
Es ist wenig hilfreich, dass die letzten beiden Zähne meinen Körper nicht verlassen wollten und sich so dagegen gewehrt haben. Auch nicht hilfreich war die Aussage der Zahnärztin, dass die Wurzeln von Zahn 27 krumm sind. Dazu kommt, dass Zahn 27 eigentlich nur ein Stumpf ist, der größtenteils aus Füllmaterial besteht. Wie also soll ich glauben, dass er sich im Ganzen entfernen lassen wird? Selbst der Gedanke an die Betäubungsspritze löst schon dermaßen Unbehagen aus, dass ich am liebsten alles absagen würde. Doch weil ich das Problem damit nur verschieben würde, ergibt das auch keinen Sinn. Und so mache ich mich um 12.30 Uhr auf den Weg. Wie sonst sollte ich auch sonst einen sonnigen Urlaubstag gestalten?
Nach kurzer Begrüßung gibt es die Betäubung und wenige Minuten später geht es los. Die Zahnärztin testet ob alles betäubt ist und muss nachbetäuben, was bei mir nicht ungewöhnlich ist. Dann endlich ist es soweit. Die Zahnärztin scheint anders vorzugehen als es zuletzt der Fall war. Als würde sie anfangs den Zahn vom Zahnfleisch lösen und dann lockern. Irgendwie kein Vergleich zu den letzten beiden Malen. Aber gut, die Situation ist auch anders. Schon bald ist der Zahn fast komplett draußen. Lediglich eine Wurzelspitze wollte nicht mit. Diese wird nun bearbeitet und gibt recht schnell auf. Dann wird die Wunde gereinigt indem darin rumgeschabt wird. Fühlt sich nicht so toll an. Nun muss noch getestet werden, ob beim Entfernen des Zahnes eine Verbindung zur Kieferhöhle entstanden ist. Dazu muss ich durch die Nase ausatmen und die Zahnärztin hält mir spontan die Nase zu. Kannte ich auch noch nicht, ist aber irgendwie lustig. Glücklicherweise scheint alles okay zu sein und ich darf auf einen Tupfer beißen. Obwohl die junge Zahnärztin vielleicht gar nichts dazu kann, dass es heute relativ gut geklappt hat mit der Entfernung von Zahn 27, wird sie mir immer sympathischer. Ich mag ihre Art und den Umgang mit den Patienten. So sollte es immer sein. Sie sagt mir noch, dass am Zahn nur eine sehr kleine Entzündung vorlag, was vielleicht durch die Fistel so war, da der Eiter möglicherweise auf dem Weg abtransportiert wurde. Dann zeigt sie mir den Zahn, der eigentlich ganz manierlich aussieht, und sagt, dass die Wurzelfüllung, die er hat, gut gemacht war. Trotzdem konnte ich, seitdem die Füllung vor etwa zwei Jahren gemacht wurde, nie schmerzfrei auf dem Zahn zubeißen. Das finde ich irgendwie bedauerlich. Zeit sich zu verabschieden. Am Montag muss ich zur Kontrolle, weil ein Besuch in der Zahnarztpraxis an meinem freien Tag einfach Pflicht ist.
Zu Hause angekommen, stelle ich fest, dass ich ziemlich geschwitzt haben muss. Shirt und Pullover sind durchgeschwitzt und ich rieche unangenehm. Die Mutation zu einem übel riechenden Mann mit nur wenigen Zähnen ist in vollem Gange. Eine Stunde nach der Extraktion entferne ich den blutigen Tupfer und bin skeptisch, was die Wunde angeht, schließlich bin ich gewohnt, dass meine Wunden vernäht sind. Das gibt mir eine Sicherheit, die mir jetzt einfach fehlt. Und so sitze ich mit dem Kühlkissen an der Wange einfach so da und bewege mich fast nicht. Es ist offensichtlich, dass ich ein komischer Kauz bin.
Der Geschmack von Blut in meinem Mund lässt mich schon bald daran zweifeln, dass die Wunde geschlossen ist. Das ist echt alles nix für mich.
Anderthalb Stunden nachdem ich den Tupfer entfernt habe blutet die Wunde fröhlich vor sich hin. Ich stopfe mir ein Wattepad in den Mund, in der Hoffnung, dass es einen positiven Effekt hat. Die Schmerzen sind auszuhalten, aber dennoch denke ich darüber nach eine Ibuprofen 200 zu nehmen. Zufrieden bin ich irgendwie nicht mit der Entwicklung. Als ich nach einer Stunde das Wattepad entferne, blutet es noch stärker und ich bin ratlos. Ein dritter Anlauf soll Abhilfe schaffen. Eine Wahl habe ich eh nicht. Warum näht man nicht alle Wunden automatisch zu? Wäre so viel einfacher.
Fünf Stunden nach der Extraktion habe ich noch nichts gegessen und lediglich einen kleinen Schluck getrunken, um die Ibuprofen zu nehmen. Es blutet weiter und ich finde es doof, dennoch mache ich mir Nudeln, weil verhungern auch keine Option ist. Nach den Nudeln mache ich mir noch eine Suppe. Es blutet kaum noch, so dass ich mich genötigt sehe Zartbitterschokolade zu lutschen. Mehr will ich mir und der Wunde nicht zumuten. Schmerzen habe ich den Rest des Abends nicht mehr wirklich, den blutigen Geschmack werde ich allerdings nicht mehr los.
Obwohl ich den Kopf hochlagere, läuft mir eindeutig Blut in den Hals. Also muss der Kopf noch höher, was sicherlich nicht beim Schlafen helfen wird. Ob ich noch ein Wattepad benutzen sollte? Ich gehe ins Bad, leuchte mit der Taschenlampe in den Mund und erkenne, dass es blutet. Weniger als gedacht zwar, aber genug, um mir Sorgen zu machen. Eine schöne Naht hätte sicher dazu beigetragen, dass elf Stunden nach der Extraktion nichts mehr blutet. Ich schlafe mäßig und wache mehrfach auf. Zahn 16 scheint auch bald raus zu wollen und um 07.00 Uhr weckt mich meine Nachbarin. „Hihihi“, „Hör auf!“, die übliche ausgelassen Stimmung dringt in meine Gehörgänge. Wann hört das wohl auf und wird komplett durch Streitereien, die ich mir dann anhören darf, ersetzt?
Der Rest des Tages verläuft ruhig. Ich esse Süppchen und andere weiche Sachen und lediglich Zahn 16 erinnert mich immer mal daran, dass es noch nicht vorbei ist.
Abschiedsfoto: