Drei Tage wohnt sie schon bei mir und ich glaube, sie ist nicht besonders intelligent. Zumindest lässt ihr Verhalten keine anderen Schlüsse zu. Die einzigen Wege aus meiner Wohnung sind die Haus- und die Balkontür. Das sind allerdings die einzigen Bereiche, die sie meidet. Dafür sucht sie meine Nähe. Als wären wir eine Wohngemeinschaft und befreundet. Mehrfach habe ich sie aufgefordert zur Balkontür zu fliegen, damit ich sie rauslassen kann, doch sie versteht mich einfach nicht und fliegt verwirrt im Kreis, bevor sie wieder auf mir landet. Gehe ich morgens ins Bad, sitzt sie schon da. Esse ich, will sie mitessen. Wenn es mit ihr durchgeht, fliegt sie wieder und wieder gegen den Badezimmerspiegel und ich muss sie ermahnen, diesen Unfug zu unterlassen. Mitunter werde ich da schon echt deutlich, weil es schon erbärmlich ist, ständig gegen einen Spiegel zu fliegen. Vor allem, wenn ich vor dem Spiegel stehe. Besonders gerne fliegt sie auch gegen das Fliegengitter vorm Badezimmerfenster und latscht dann völlig verwirrt darauf herum, vermutlich um einen Weg nach draußen zu finden. Auch das führt zu einseitigen Diskussionen, weil sie trotz Aufforderung einfach nicht woanders hinfliegen will. Kann ich sie doch irgendwann gestenreich davon überzeugen mit dem Unsinn aufzuhören, fliegt sie gern zur Küche und dort mit Schwung gegen das Küchenfenster, um da völlig verwirrt, fast schon verzweifelt, herumzuwandern. Sie begreift einfach nicht, dass geschlossene Fenster, ebenso wie Fliegengitter, den Weg nach draußen versperren. Ich weiß nicht, wie lange so eine Fliege hält, fürchte aber, dass ich sie schon bald irgendwo tot auffinden werde. Bis dahin werde ich ihr sicher noch einige Male erklären, dass sie zur Balkontürfliegen soll, um in Freiheit zu gelangen. Ich habe ja auch Verständnis dafür, dass sie sich in mich verliebt hat, weil es schon vielen Insekten so gegangen ist. Aber das führt zu nichts. Für keinen von uns, denn ich werde keine Bindung zu ihr aufbauen, weil sie eh bald stirbt und ich dann traurig wäre, wenn ich mich auf sie eingelassen hätte. Das möchte ich nicht.
Als ich von der Arbeit nach Hause komme, finde ich sie tatsächlich genau dort wieder, wo sie sich befand als ich am Morgen los bin. Am Küchenfenster hinter dem Rollo. Ob sie ihren Tag dort verbracht hat, sie extra zur Begrüßung da auf mich wartet oder es Zufall ist, weiß ich nicht. Doch weil ich finde, dass es kein guter Platz ist und ein Aufenthalt sie dort nicht weiterbringt, mache ich das Rollo ganz hoch und sage ihr, dass sie vom Fenster weg soll. Obwohl nicht davon auszugehen ist, dass sie mich versteht, fliegt sie fort.
Zwei Stunden später mache ich mir Sorgen, weil sie nirgends zu finden ist. Daher vermute ich, dass sie entweder gestorben ist oder irgendwo ein Nickerchen macht. Als ich mir etwas zu essen mache, taucht sie wie aus dem Nichts auf, landet kurz auf meiner Schulter und fliegt dann ganz aufgeregt umher. Komische Fliege. Wenige Augenblicke später landet sie erneut am Küchenfenster, rennt verpeilt daran herum und ich erkenne, dass sie optisch im Laufe des Tages ziemlich abgebaut hat. Sie wirkt saft- und kraftlos und es ist offensichtlich, dass ihre Agilität einer gewissen Trägheit gewichen ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie bei mir stirbt, war nie größer und ich bin froh, dass ich keine engere Bindung mit ihr eingegangen bin. Trotzdem will ich keine tote Fliege in meiner Wohnung, daher erkläre ich ihr das mit dem Ausgang durch die Balkontür noch einmal ausführlich bevor ich sie aus den Augen verliere.
Nachdem ich mein Essen zu mir genomen und gespült habe, rufe ich nach ihr. Keine Antwort. Ich suche sie an ihren Lieblingsplätzen, sie ist nicht da. Ich gieße die Balkonblumen, nicht ohne erneut zu erklären, dass auch sie dort raus kann. Keine Reaktion. Vielleicht spielen wir ja verstecken und ich muss sie suchen. Aber woher soll ich das wissen? Ich hole mir ein Buch, will auf den Balkon, da entdecke ich sie an der Fliegengittertür vom Balkon. Sie putzt sich scheinbar, möglicherweise ist sie auch nur verwirrt. Vorsichtig öffne ich die Tür und weise ihr mit Hilfe des Buches den Weg in die Freiheit. Zunächst ziert sie sich, doch dann hat sie einen hellen Moment und fliegt raus. Ich sehe ihr kurz hinterher, verliere sie aber bald aus den Augen. Was wird nun wohl aus ihr werden und wieviel Zeit bleibt ihr noch? Fragen, die für immer unbeantwortet bleiben. Mit der Gewissheit, dass sie vermutlich in Freiheit stirbt, widme ich wieder meinem Leben.
arme fliege.
Ich wollte ja helfen.
Eine sehr schöne Geschichte. Ich hatte auch mal eine Fliege. Ich habe sie Hilde genannt. Sie blieb ziemlich lange bei mir.
Blieb Hilde bis zum Tod?
Ich bin froh, dass die Fliege es geschafft hat, ihre Freiheit wieder zu erlangen.
Und: Du bist genauso verschroben wie ich – ich hätte vermutlich genauso unermüdlich mit der Fliege geredet. Irgendwie ist es auch sehr sympathisch, dass du sie an ihren Lieblingsplätzen gesucht hast. Dieser Post ist wunderbar.
Verschroben. Ein fast schönes Wort.
Wie süß! Alle Fliegen sollten mal Urlaub bei Dir machen. Zauberhafter Post!
Das würde ich nicht verkraften.